REUTLINGEN. Nils Schmid spricht im GEA-Interview über die deutschen Kriegsziele und erklärt, warum die Ukraine aus seiner Sicht gewinnen muss. Der außenpolitische Sprecher der SPD räumt ein, dass seine Partei zu lange auf Diplomatie gesetzt habe. Er geht davon aus, dass der Krieg in der Ukraine noch länger andauern wird und Deutschland dauerhaft mehr für Verteidigung ausgeben muss.
GEA: Herr Schmid, vor einem Jahr hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine begonnen. Wissen Sie noch, was Sie damals gemacht haben?
Nils Schmid: Das war beim Frühstück. Ich habe eine Nachricht meiner Fraktion erhalten und war schockiert.
»Wir verändern die Balance zugunsten der Ukraine, um Putin zur Verhandlung zu zwingen«
Das heißt, Sie haben nicht damit gerechnet, dass Präsident Putin diesen Krieg beginnt?
Schmid: Nein, der russische Präsident hat sogar eine Woche vorher seine Verhandlungsbereitschaft betont und versichert, er würde die Ukraine nicht angreifen. Doch Putin hat uns alle belogen.
Wie sehr hat dieser Krieg ein eher pazifistisch geprägtes Land wie Deutschland verändert? Zu unseren Grundüberzeugungen zählte ja, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern.
Schmid: Der Überfall auf die Ukraine ist eine Zäsur. Der Versuch, Russland in eine gesamteuropäische Friedenspolitik einzubinden, ist damit auf lange Zeit gescheitert. Das bedeutet für uns und die anderen Nato-Partner, dass wir deutlich mehr auf Abstand gehen zu Russland und das militärische Element in den internationalen Beziehungen eine wichtigere Rolle spielt. Leider heißt das auch, dass wir mehr für Verteidigung ausgeben müssen.
Wie viel mehr? Der neue Verteidigungsminister will, dass der Militärhaushalt dauerhaft aufgestockt wird. Allein das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro sei nicht ausreichend für die neuen Aufgaben. Gehen Sie da mit?
Schmid: Zunächst einmal geht es darum, das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro schnell auszugeben. Damit die notwendigen Verbesserungen bei der Bundeswehr spürbar greifen. Aber klar ist auch, dass das nicht ausreichen wird. Der Bundeskanzler hat zu Recht das Ziel formuliert, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Es ist wichtig, dass wir diese dauerhafte Finanzzusage von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts machen. Nur dann haben die Rüstungskonzerne Planungssicherheit und werden auch ihre Kapazitäten hochfahren.
Zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist also ihr Ziel?
Schmid: Genau, das streben wir an. Doch gleichzeitig wollen wir die Ausgaben für Entwicklungshilfe und Diplomatie erhöhen.
Der Kanzler hat nur wenige Tage nach Kriegsausbruch seine berühmte Zeitenwende-Rede gehalten. Ist dieser Begriff korrekt oder kaschiert er nicht, dass man schon viel früher einen härteren Kurs gegen Russland hätte einschlagen müssen?
Schmid: Nach der Einnahme der Krim wurde der Kurs gegen Russland verschärft und Sanktionen verhängt. Doch im Nachhinein müssen wir einräumen, dass das nicht ausreichend war.
Die SPD ringt um den richtigen Umgang mit Russland. Es gibt immer wieder Forderungen danach, mehr auf Diplomatie zu setzen. Denkt die Regierung zu wenig darüber nach, wie man diesen Krieg beenden kann?
Schmid: Nein, denn Verhandlungen setzen Verhandlungsbereitschaft voraus. Diese ist auf russischer Seite nicht erkennbar. Putin geht weiterhin davon aus, dass er seine Kriegsziele mit militärischen Mitteln erreichen kann. Er will einen Diktatfrieden und macht damit der Ukraine Verhandlungen unmöglich.
Also keine Verhandlungen mit Präsident Putin?
Schmid: Klar ist, dass der Gesprächsfaden in den Kreml nicht abreißen darf. Und sei es nur, damit man Putin klarmacht, dass er mit diesem Kurs nicht durchkommt und für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Wir werden die Ukraine mit Waffenlieferungen weiter unterstützen und damit die militärische Balance zugunsten der Ukraine verändern, um Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aber im Moment scheint das in weiter Ferne, weil Russland weiter mobilisiert und eine neue Offensive plant.
Deutschland ist keine Kriegspartei, aber doch in den Krieg verwickelt mit Waffenlieferungen und Ausbildung ukrainischer Soldaten. Dennoch wurde nie ein Kriegsziel definiert. Wie müsste ein solches aus ihrer Sicht lauten?
Schmid: Putin darf mit seiner Aggression keinen Erfolg haben und die Ukraine muss mit militärischen und politischen Mitteln ihre vollständige territoriale Integrität wiedererlangen einschließlich der Krim.
Ist das realistisch? Für Putin wäre das eine krasse Niederlage, wenn er die Krim und die Separatistengebiete aufgeben müsste.
Schmid: Ob die Zurückerlangung der Krim allein mit militärischen Mitteln gelingt, kann man noch nicht sagen. Erfahrungsgemäß werden solche Kriege durch den Einsatz von militärischen und politischen Mitteln beendet. So könnte es auch hier sein. Wichtig ist aber, dass wir nicht zulassen können, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Grenzen in Europa mit Gewalt verschoben werden. Wir fürchten, dass Putin die Ukraine scheibchenweise – von Waffenstillstand zu Waffenstillstand – zerschlägt. Das können wir nicht akzeptieren.
Hätte man nicht früher eingreifen müssen? Die Kämpfe im Donbass haben Europa lange Zeit nicht interessiert. Es war ein regionaler Konflikt.
Schmid: Vor dem 24. Februar 2022 haben wir zu stark auf Diplomatie und auf die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens von Minsk vertraut und waren zu wenig auf einen Angriff vorbereitet. Dabei war schon damals klar, dass Putin gar nicht an der Umsetzung des Abkommens interessiert war. Deshalb kann die Ukraine nicht einem erneuten Waffenstillstand zustimmen. Die Erfahrung zeigt, dass dies kein Weg zum Frieden ist, sondern bestenfalls eine Atempause darstellt auf dem russischen Weg, den ukrainischen Staat zu vernichten.
Heißt das nicht, Deutschland und damit die Nato, will Putin besiegen?
Schmid: Es geht nicht darum, die Herrschaft Putins zu beenden, sondern Russlands Herrschaftsanspruch über die Ukraine zurückzuweisen.
Wie stark ist die Ukraine? Kann die Ukraine den Konflikt gegen das übermächtige Russland bestehen?
Schmid: Allein könnte die Ukraine diesen Kampf nicht gewinnen. Mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wohl.
ZUR PERSON
Nils Schmid (49) ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er trat bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Nürtingen an. Von 2009 bis 2016 war er Landesvorsitzender der SPD. Im Kabinett Kretschmann war Schmid von Mai 2011 bis Mai 2016 Finanzminister. Schmid ist verheiratet und lebt in Reutlingen. (cvr)
Fürchten Sie nicht eine weitere Eskalation, wenn Putin den Eindruck hat, diesen Krieg zu verlieren?
Schmid: Wir sind uns des Eskalationsrisikos bewusst. Deshalb haben wir von Anfang an als rote Linie ausgegeben, dass die Nato nicht Kriegspartei werden darf. Wir wissen aus den Erfahrungen der letzten 12 Monate, dass das Risiko von Waffenlieferungen beherrschbar ist. Die Abschreckung der Nato hat sich bewährt. Putin wird kein Nato-Land angreifen.
»Wir haben zu stark auf die Umsetzung des Abkommens von Minsk vertraut«
Dann müssen sich die Menschen in Deutschland also auf einen langen Krieg in der Ukraine einstellen, der viele Menschenleben und Wohlstand kosten wird?
Schmid: Es wäre jedenfalls falsch, ein schnelles Ende des Kriegs in Aussicht zu stellen. Der Krieg kann von einem Tag auf den anderen beendet werden, wenn Putin seine Truppen aus der Ukraine zurückzieht. Aber danach sieht es leider nicht aus. (GEA)