BERLIN. Es ist eine ungewöhnliche Frage für ein Interview mit einem deutschen Bundeskanzler. »Was hat sie da so bewegt, dass sie da so weinen mussten«, will die ARD-Journalistin Caren Miosga am Sonntagabend von Friedrich Merz wissen. Mit leichter Betonung auf dem »so« – als ob gerade die Intensität des Gefühlsausbruchs Anlass zur Frage gäbe. Zuvor sahen die Zuschauer einen kurzen Einspieler: Friedrich Merz, wie er zwei Wochen zuvor in München eine Rede zur Neueröffnung der Synagoge in der Reichenbachstraße hielt. Ein Auftritt, bei dem der Kanzler mit den Tränen kämpfte.
Auf die Frage, was ihn so bewegt habe, zögert Merz kurz. Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme, blickt nach oben und setzt zum Sprechen an. Wieder klingt seine Stimme ein wenig brüchig. Solche Augenblicke, »die sind einfach da«, sagt Merz. »Das ist mir einfach schwergefallen.« Deutschland soll ein Land bleiben, in dem auch jüdische Kinder ohne Gefahr groß werden könnten, sagt Merz. Seine Sätze werden von Applaus unterbrochen.
Ein deutscher Bundeskanzler, der öffentlich weint und dann im Fernsehen auch noch über seine Gefühle reflektiert: Das ist neu. Angela Merkel blieb fast schon betont nüchtern, für Olaf Scholz war die Emotionslosigkeit ein Markenzeichen, das nicht selten die Grenze zur Karikatur überschritt. »Es ist wohltuend für die politische Kultur, dass nach zwei emotionsaversiven Kanzlerschaften nun jemand Kanzler ist, der mehr Emotionen zulässt«, sagt der Politikberater Johannes Hillje, der unter anderem für SPD und Grüne gearbeitet und mit »Mehr Emotionen wagen« ein Buch über Gefühle in der Politik veröffentlicht hat.
Hillje ist nicht der Einzige, der dem Auftritt des Kanzlers Anerkennung zollt. Das Video aus München wurde in den sozialen Medien millionenfach angesehen. Auch aus der Opposition kam Lob. Dabei waren es gerade seine Kritiker, die Merz immer als empathielosen Manager darstellten – »kalter Fritz« nannte ihn die taz einmal. Wie passt das zusammen?
Diese Bilder des Kanzlers schließen sich nicht unbedingt aus, meint Hillje. So sei er in seinen Regierungserklärungen bisher tatsächlich »erstaunlich nüchtern« geblieben, habe aber in der Vergangenheit durchaus emotional reagiert.
Anfang des Jahres, nachdem ein ausreisepflichtiger Asylbewerber in Aschaffenburg ein Kind erstochen hatte, trat der CDU-Chef sichtlich berührt vor die Mikrofone, sprach über die »abscheuliche Tat«. Merz reagiert besonders emotional, wenn es um das Leid von Kindern gehe, sagten Parteifreunde. Immerhin ist Merz selbst Vater – als erster Kanzler seit Kohl.
Und zur Wahrheit gehört auch, dass sich nicht jeder Politiker diese Gefühle erlauben kann. »Bei der Bewertung von Emotionen in der Politik gibt es bis heute eine Diskriminierung von Frauen«, sagt Hillje. »Emotionalen Politikerinnen wird häufig Irrationalität unterstellt, während emotionale Politiker als moderne Männer gelten.« (GEA)

