POTSDAM. »Sanssouci – daran denkt man, wenn man in Potsdam ist. Ohne Sorge sind wir aber nicht.« Christian Lindner setzt gleich bei der Eröffnung seines Bürgerdialogs den treffenden Ton zur Lage der Nation. Die Zeiten sind hart, das Geld ist knapp, die Regierung völlig zerstritten. Im Kontrast dazu steht des Finanzministers sommerliche Lockerheit. In grauen Jeans und grauen Turnschuhen federt er am Montag bei bestem Sommerwetter in die backsteinerne Schinkelhalle, am Tiefen See gelegen.
Unter den starken braunen Deckenbalken hängen Kronleuchter. Preußens Gloria. Auf die Krawatte hat Lindner verzichtet und bittet um Nachsicht. »Ich komme aus dem Wald«, erzählt er. Der Minister hat vor dem Termin Förster in Brandenburg getroffen, die Bundesforstverwaltung fällt in seine Zuständigkeit. In den tiefen, dunklen Wald hat sich symbolisch auch die Ampelkoalition verirrt. Mal wieder.
Vor vier Wochen sah es so aus, als hätte das Regierungsbündnis den Weg ins Licht zurückgefunden. Lindner einigte sich mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf einen Haushaltsentwurf. Über mehrere Monate hatten sie insgesamt 80 Stunden über das Zahlenwerk verhandelt, die Koalition stand am Abgrund. Dann Anfang Juli die Einigung mit müden Auggen, mehreren Buchungstricks und einer riskanten Leerstelle. Die Regierung würde sich in die Sommerpause retten und in das letzte Jahr der Wahlperiode schleppen, so die Annahme.
»Die Vorwürfe zeugen von mangelnder Kenntnis über die Absprachen«
Einen Monat später ist das überholt. Es knirscht gewaltig, der Ton wird schärfer. Die SPD unterstellt Lindner, mit seiner Unnachgiebigkeit bei den Finanzen die Koalition bewusst zum Einsturz bringen zu wollen, um Neuwahlen zu erzwingen. »Das ist unanständig und dient der eigenen Profilierung«, schimpft Parteichefin Saskia Esken im ZDF. Die SPD stellt den Kanzler und büßte die Macht im Falle von Neuwahlen mit nahezu absoluter Sicherheit ein.
In der Schinkelhalle, in der früher berittene preußische Husaren gedrillt wurden, gibt Lindner zurück, Eskens Kommentare zeugten eher von mangelnder Kenntnis über die Absprachen innerhalb der Regierung. Die 62-Jährige gehört nicht dem inneren Machtzirkel um Scholz, Habeck und Lindner an. Der FDP-Vorsitzende sagt dann noch einige Standardsätze in die aufgebauten Kameras. Die Regierung befinde sich im Austausch, dem Parlament werde der Haushaltsentwurf noch im August zugeleitet. Im Kern zofft sich die Koalition um fünf Milliarden Euro, bei für 2025 geplanten Ausgaben von 480 Milliarden Euro keine große Summe. SPD und Grüne würden gerne ein weiteres Mal eine Notlage erklären, um die Schuldenbremse auszusetzen, aber dagegen stemmen sich die Liberalen und ihr Chef. Keine Steuerhöhungen, kein Aussetzen der Schuldenregel, wiederholt Lindner sein Mantra. »Es ist eine große Priorität, dass wir nachhaltige Staatsfinanzen haben«, meint er.
Wie die Lücken im Haushaltsentwurf geschlossen werden können, darüber rätselt der gesamte Hauptstadtbetrieb. Zwei Rechtsgutachten waren zu dem Ergebnis gekommen, dass die Buchungstricks juristisch mit Vorsicht zu genießen sind. Der Finanzminister will nicht noch einmal erleben, vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe unterzugehen. Im November zerpflückten die Richter den Haushalt und schärften die Schuldenregel des Grundgesetzes nach. Seither fehlt der Ampel mit einem hohen Schuldenvolumen das Schmiermittel, das die drei ungleichen Partner zusammengehalten hatte.
»Zu Befehl – danach kann nichts mehr kommen«
Der daraus resultierende Streit hat das Ansehen der Koalition verwittern lassen wie Wind und Wetter ein altes Gemäuer. Nach drei Jahren an der Regierung ist das Vertrauen so niedrig wie noch zu keinem anderen Regierungsbündnis in der Geschichte der Bundesrepublik, wie die Meinungsforscher des Forsa-Instituts ermittelt haben. Die FDP steht auf der existenzgefährdenden Klippe von 5 Prozent, ist aber davon überzeugt, dass Härte bei Steuern und Ausgaben schlussendlich genügend Wähler zu ihr finden lässt. Bei der Europawahl holte man schließlich jene 5 Prozent, obwohl die FDP bei Europa traditionell schwächer abschneidet.
»Wir gehen eigenständig in die nächste Bundestagswahl«, hatte Lindner am Sonntagabend im ZDF-Sommerinterview erklärt. Und im gleichen Atemzug das Bekenntnis abgegeben, Bürger und Betriebe »bei Steuern und bei Bürokratie entlasten« zu wollen.
In der alten Reithalle der Husaren lobt einer der Gäste den Finanzminister für seine Strenge in der Haushaltspolitik und ruft ihn eindringlich dazu auf, auf jeden Fall standhaft zu bleiben. »Zu Befehl«, antwortet Lindner und führt die Hand an die Schläfe zum militärischen Gruß. »Danach kann nichts mehr kommen«, sagt der 45-Jährige und beendet das Gespräch mit den Bürgern nach rund anderthalb Stunden. »Entweder siegen oder sterben«, lautete einst der Wahlspruch der preußischen Kavallerie. (GEA)