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Letzter Überlebender des KZ Hailfingen-Tailfingen stirbt mit 100 Jahren

Mordechai Ciechanower war der letzte, der von den Schrecken des Konzentrationslagers Hailfingen-Tailfingen erzählen konnte. Er starb mit 100 Jahren in Israel.

Mordechai Chiechanower, der letzte Überlebende des KZ Hailfingen-Tailfingen starb mit 100 Jahren
Mordechai Chiechanower, der letzte Überlebende des KZ Hailfingen-Tailfingen starb mit 100 Jahren Foto: Martin Zimmermann
Mordechai Chiechanower, der letzte Überlebende des KZ Hailfingen-Tailfingen starb mit 100 Jahren
Foto: Martin Zimmermann

ROTTENBURG-HAILFINGEN/TEL AVIV. Mordechai Ciechanower ist in einer Heimat aufgewachsen, die es so nicht mehr gibt. In Makow Mazowiecki in Polen, 100 Kilometer nördlich von Warschau und 45 Kilometer westlich der sowjetischen Grenze lebten 5.000 Juden, etwa die Hälfte der Einwohner. Die Juden hatten in ihrem Schtetl, wie sie es nannten eine alte Synagoge und sprachen Jiddisch, Ciechanowers Muttersprache. Wenn er auf deutsch erzählte, dann hatte seine Stimme einen weichen jiddischen Akzent und wenn er von seiner Heimat erzählte, dann wurde er wehmütig. Nach Polen in seine verlorene Heimat zurückzukehren, das sei ihm noch schwerer gefallen, als nach Deutschland zu kommen. Doch eigentlich hatte er sich als junger Mann nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen - als er mit 21 Jahren nur noch 30 Kilo wog, geschworen, auch nie wieder nach Deutschland zurückzukehren.

Diesen Schwur brach er als Rentner und Großvater, weil er eine Mission hatte. Er wollte als Zeitzeuge über den Holocaust berichten. »Es gibt mir Kraft, dass ich davon erzählen kann. Dass ich das an die nächste Generation übergeben kann«, sagte er 2014 dem GEA. Und fügte hinzu: »Ich bin der Zeuge. Ich war dort. Viele Menschen glauben nicht, was war. Das Schlimme, was damals war, ist ein Fakt.« Als englischer Soldat verkleidet war Ciechanower 1945 unter falschem Namen illegal ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina eingewandert und hatte geholfen, den heutigen Staat Israel aufzubauen.

Dokumentarfilm »Der Dachdecker von Birkenau«

Ciechanower hat insgesamt fünf Konzentrationslager überlebt. Er war in Auschwitz-Birkenau, wo er nur überlebte, weil er in einem Dachdeckerkommando arbeiten konnte. Ein Dokumentarfilm über ihn trägt deshalb den Titel »Der Dachdecker von Birkenau«. Für diesen Film besuchte er 2014 alle Stationen seines Leidenswegs. Von Auschwitz-Birkenau wurde er nach Stutthof bei Danzig und von dort nach Hailfingen-Tailfingen an der Kreisgrenze zwischen den Landkreisen Tübingen und Böblingen verlegt. »Als ich dort ankam, hatte ich das erste Mal ein kleines Fünkchen Hoffnung den Krieg zu überleben«, berichtete er. Die Juden glaubten, mitten in Deutschland würde man sie nicht so schlimm quälen wie in Polen.

Doch es kam anders. »Es gab fast nichts zu essen. Wir haben bemerkt, dass die Kartoffelschalen in die Toilette geworfen wurden. Wir holten sie heraus, wuschen sie und kochten sie in einer Blechdose. Das war eine Delikatesse«, erzählte Ciechanower. Als das KZ Hailfingen-Tailfingen aufgelöst wurde, musste Chiechanower auf einen der Todesmärsche nach Dautmergen im Zollernalbkreis und dann nach Bergen-Belsen bei Hannover, wo er schließlich befreit wurde.

Das Trauma der Konzentrationslager hat Ciechanower sein ganzes Leben lang geprägt. »Alle Menschen die im Lager waren, sind zu mindestens 25 Prozent geistige Invaliden. Ich auch.« Obwohl er eine Familie mit Frau, Kindern, Enkeln und Urenkeln habe. »Ich wache nachts schreiend auf, weil ich träume, dass man mich verfolgt und auf mich schießt«, erzählte er. Auch sein Verhalten habe der Hunger geprägt: »Weil ich drei Jahre lang Hunger gehabt habe, esse ich immer hartes Brot. Ich kaufe immer zu viel Brot ein.«

Kein Groll gegen junge Generation

Als Rentner führte Chiechanower israelische Schülergruppen in Auschwitz und er erzählte in deutschen und polnischen Schulen. Er betonte immer wieder, dass er gegen die jüngere Generation von Deutschen und Polen keinen Groll hege. Das sei eine gute Generation, die keine Schuld treffe, sagte er. Er erzählte auch israelischen Polizisten und Geheimdienstleuten von seinem Schicksal. Als Ciechanower vor einer Woche in Israel starb, trugen Offiziere der Geheimdienste Shin Bet und Mossad seinen Sarg. Am 27. Februar hätte Mordechai Ciechanower seinen 101. Geburtstag gefeiert. Nach Shlomo Rejziks Tod im Dezember 2023 war er der letzte Überlebende von Hailfingen-Tailfingen. Von ihm bleiben seine Stimme und einige jiddische Lieder, die das Team der Gedenkstätte zwischen Rottenburg und Herrenberg aufgezeichnet hat und die dort gehört werden können.