DORTMUND. Zwei Jahre Corona-Pandemie bedeutet zwei Jahre Ausnahmezustand an Schulen. Dass der ständige Wechsel zwischen Präsenz-, Hybrid- und Distanzunterricht nicht ohne Folgen bleiben würde hatten Bildungsexperten schon lange vermutet, nun hat es zum ersten Mal eine Studie an einem konkreten Beispiel bestätigt: Die Lesekompetenz von Viertklässlern hat in den letzten Jahren »alarmierend« abgenommen. Hier die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung:
- Hat sich die Lesekompetenz von Grundschülern durch die Corona-Pandemie verschlechtert?
Die Frage kann man mit einem eindeutigen Ja beantworten. Laut den Ergebnissen der am Dienstag veröffentlichten repräsentativen Untersuchung des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Uni Dortmund sind Viertklässler in Deutschland in ihrer Lesekompetenz erheblich zurückgefallen. Genauer gesagt fehle den Schülerinnen und Schülern im Durchschnitt ein halbes Schuljahr.
Das Forscherteam stellte Lese-Leistungsabfälle unter Viertklässlern durchgängig bei allen Gruppen fest. Der Anteil der starken und sehr starken Leser ist demnach von 44 Prozent im Jahr 2016 um ganze sieben Prozent auf 37 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Der Anteil der Viertklässler, die Probleme mit dem Lesen und dem Textverständnis haben, nahm dagegen um sechs Prozent auf insgesamt 28 Prozent zu. »Da Lesen eine zentrale Kompetenz darstellt, hat dieses Ergebnis auch Auswirkungen auf alle anderen Schulfächer«, betonte Nele McElvany, die Leiterin der Studie.
- Gibt es Unterschiede bei verschiedenen Schülergruppen?
Die gibt es: Mädchen sind im Mittel weiterhin stärker im Lesen als Jungen, allerdings sank das durchschnittliche Leseniveau bei beiden. Und auch das Zuhause hat einen Einfluss: Kinder aus Familien, die mehr als 100 Bücher besitzen, konnten im Mittel besser lesen als Kinder mit wenig Büchern daheim – auch hier ist die Leistung in beiden Gruppen im Vergleich zu 2016 ähnlich deutlich gesunken.
Kinder mit schlechten häuslichen Rahmenbedingungen zum Lernen, wie etwa Schüler, die keinen eigenen Schreibtisch und keinen Internetzugang zur Verfügung haben, zeigen 2021 eher noch schwächere Leistungen als im Jahr 2016. Vergleicht man die Gruppen der Grundschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund, so hat laut Studie die Leseleistung von Kindern mit Migrationshintergrund stärker unter der Pandemie gelitten.
- Warum ist die Lesekompetenz von Viertklässlern so wichtig?
Die vierte Klassenstufe sei aufgrund des Übergangs in die weiterführenden Schulen ein kritischer Zeitpunkt, heißt es in der Untersuchung. Flüssiges und sinnerfassendes Lesen werde in der Grundschule erworben, sie gelte als Schlüsselqualifikation und ist laut McElvany für alle Unterrichtsfächer wichtig und Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Die aktuellen Viertklässler haben sogar noch ein weiteres Jahr Corona-Pandemie auf ihrem Buckel. Wie schaut es mit ihnen aus? »Das war nicht Teil der Erhebung, aber es ist anzunehmen, dass ihre Lesekompetenz tendenziell noch schwächer ausfällt«, so die Bildungsforscherin.
- Welche Faktoren haben sich während der Pandemie negativ auf die Lesefähigkeit ausgewirkt?
Für den Erwerb von Lesekompetenz spielen laut Untersuchung Leseunterricht, außerschulisches Leseverhalten und familiäre Unterstützung eine wichtige Rolle. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass die Wochen im Wechsel- und Distanzunterricht in Kombination mit der Erwerbssituation der Eltern und der sonstigen familiären Situation sich negativ auf die Leseleistung der Schüler ausgewirkt haben könnten. Leseunterricht in der Grundschule fand bisher mit gedrucktem Lesematerial statt. Durch den Wechsel zum Digitalunterricht könnten hier Schwierigkeiten entstanden sein. Außerdem müssen Grundschulkinder noch sehr stark im Lernprozess unterstützt und betreut werden, was viele Eltern vor Herausforderungen stellte. Jüngere Geschwister zu Hause könnten die Problematik noch verschärft haben.
- Sind die Defizite noch aufzufangen?
Nötig sei ein wissenschaftlich fundiertes Gesamtkonzept für die Schulen, fordert McElvany, Lehrende sollten mit dem Gegensteuern nicht alleine gelassen werden. »Die Lernrückstände beim Lesen von einem halben Schuljahr sind so massiv, dass man sie nicht mit Einzelmaßnahmen wie Nachhilfe-Unterricht auffangen könnte«, betont die Bildungsforscherin und Direktorin des IFS. »Wir steuern auf ein großes Problem zu, dass sich durch die gesamte Schulzeit und bis hin zu nicht erfolgreichen Schulabschlüssen ziehen kann.« (GEA/dpa)