DEN HAAG. Wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehl gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu erlassen. Die Richter entsprachen damit einem Antrag von Chefankläger Karim Khan. Auch gegen Israels früheren Verteidigungsminister Joav Galant und einen Anführer der Terrororganisation Hamas, Mohammad Diab Ibrahim Al-Masri, ergingen internationale Haftbefehle. Fragen und Antworten zur Bedeutung dieser Entscheidung.
?Was ist der Internationale Strafgerichtshof?
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag verfolgt Verdächtige wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Aggressions-Krieg. Dazu gehören gerade auch politisch und militärisch Verantwortliche. Auch Staats- und Regierungschefs können sich nicht auf Immunität berufen. Der IStGH ist kein Gericht der Vereinten Nationen, sondern beruht auf einem Grundlagenvertrag, dem Römischen Statut.
?Darf das Gericht überall ermitteln?
Das Weltstrafgericht darf im Prinzip nur Verbrechen verfolgen, die auf dem Gebiet seiner Mitgliedstaaten verübt wurden, also derjenigen, die den Grundlagenvertrag ratifiziert haben. Zu den 124 Mitgliedstaaten gehören zum Beispiel alle EU-Länder.
?Ist Israel Vertragsstaat des Gerichts?
Nein. Israel lehnt es ab, dass seine Staatsbürger vor das internationale Gericht gebracht werden könnten. Aus demselben Grund haben auch die USA den Grundlagenvertrag nie ratifiziert. Russland und China sind ebenfalls keine Vertragsstaaten.
?Darf der Chefankläger zu Verbrechen im Gaza-Krieg ermitteln?
Ja, das darf er. Palästina ist Vertragsstaat und hat ausdrücklich erklärt, dass das Gericht auch in seinen Gebieten befugt ist, mögliche Verbrecher zu verfolgen. Die Richter hatten bereits vor einigen Jahren festgestellt, dass der Chefankläger ermitteln darf und Verdächtige für mögliche Verbrechen, die auf palästinensischem Gebiet begangen wurden, vor das Gericht gebracht werden dürfen.
?Was bedeutet der Haftbefehl für das Ansehen Israels?
Für Israel sind diese Haftbefehle ein schwerer Schlag. Der internationale Druck wird weiter zunehmen, selbst mögliche Kriegsverbrecher auch in eigenen Reihen strafrechtlich zu verfolgen.
?Welche Folgen haben die Haftbefehle?
Das Gericht hat selbst keine Polizeimacht, um Haftbefehle zu vollstrecken. Doch nun sind alle 124 Mitglied Staaten verpflichtet, sie auszuführen. Das heißt: Sobald sich ein Gesuchter auf ihrem Hoheitsgebiet befindet, muss er festgenommen und dem Gericht überstellt werden. Durch die Haftbefehle sind also die Reisemöglichkeiten der Gesuchten erheblich eingeschränkt.
?Wie realistisch ist eine Festnahme von Netanjahu?
Israels Verbündete stehen vor einem Dilemma: Netanjahu festnehmen oder nicht? Deutschland zum Beispiel ist einer der Hauptunterstützer des Gerichts, zugleich aber auch enger Verbündeter der USA und Israels. Die Bundesregierung hat bisher erklärt, man werde sich an Recht und Gesetz halten. Andere westliche Staaten aber wie Ungarn bezweifeln, ob die deutsche Regierung Netanjahu und Galant festnehmen würde.
?Wie groß ist die Unterstützung des Gerichts?
Bisher ist die internationale Unterstützung gerade aus dem Westen groß. Bisher gab es aber auch keine Verfahren zu Verbrechen in westlichen Staaten, sondern vorwiegend in Afrika. Daher wurde dem Gericht gerade von diesem Kontinent Einseitigkeit vorgeworfen. Der Fall zum Gaza-Krieg kann nun zum Testfall für die Glaubwürdigkeit werden. Ordnen die westlichen Staaten ihre politischen Interessen dem internationalen Recht unter?
?Wie geht es weiter?
Der Chefankläger wird weiter ermitteln, Beweise sammeln und Zeugen befragen. Anklage kann erst erhoben werden, wenn ein Verdächtiger festgenommen wurde. In einem Vorverfahren müssen dann die Richter prüfen, ob die Beweise für die Anklage ausreichen. Erst dann wird das Hauptverfahren eröffnet.
?Könnte Israel das Verfahren verhindern?
Ja. Wenn Israel glaubhaft macht, dass es selbst mutmaßliche Kriegsverbrechen verfolgen wird und auch der Regierungschef nicht immun ist, dann können die Richter in Den Haag das ganze Verfahren auf Eis legen. (dpa)