STUTTGART/DEN HAAG. Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) steht seit den Haftbefehlen gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den russischen Präsidenten Wladimir Putin unter Druck. US-Präsident Donald Trump hat per Dekret Sanktionen gegen Mitarbeiter des IStGH angekündigt. Dennoch hat CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz angekündigt, Netanjahu bei einem Deutschland-Besuch nicht festzunehmen. Die Völkerrechtler Kai Ambos und Natalie von Wistinghausen bewerteten bei einer Veranstaltung in der ehemaligen Stuttgarter Gestapo-Zentrale »Hotel Silber« die aktuelle Entwicklung.
- Wird Benjamin Netanjahu verhaftet, wenn er nach Deutschland kommt?
»Deutschland hat eine Pflicht zur Kooperation mit dem IStGH«, sagt Kai Ambos. Geregelt sei das in dem unter Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin (SPD) verabschiedeten Kooperationsgesetz. Zuständig sei die Generalstaatsanwaltschaft an dem Ort, an dem Netanjahu Deutschland zuerst betritt. Wenn das der Flughafen Stuttgart wäre, dann wäre die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart zuständig. »Es ist ähnlich wie bei einem europäischen Haftbefehl. Der Generalstaatsanwalt muss den Haftbefehl gar nicht prüfen, sondern muss ihn zunächst einmal vollziehen«, so Ambos. Dann aber gelte der Rechtsschutz. Netanjahu könne sich einen Anwalt nehmen und eine Auslieferung nach Den Haag sei dann »kein Automatismus«, so Ambos.
- Kann Friedrich Merz als Bundeskanzler Netanjahu Straffreiheit zusichern?
Er verstehe nicht wie Friedrich Merz »als Volljurist, der er ja ist«, so eine Aussage treffen könne, sagt Ambos. »Ich frage mich, welchen Weg er da finden will, um Netanjahu unbehelligt zu lassen. Will er die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Richter in Deutschland aushebeln?«, fragte Ambos rhetorisch. »Ich hoffe, dass Netanjahu schlau genug ist, um nicht nach Deutschland zu kommen«, sagte Anwältin Natalie von Wistinghausen. Auf die Frage, ob sie Netanjahu vor Gericht verteidigen würde, meinte von Wistinghausen, dass sie sich »sicherlich nicht als optimale Verteidigerin für Netanjahu« einschätze.
- Welche Beweise liegen gegen Netanjahu vor?
»Wir kennen alle bisher nur die Pressemeldung«, sagte Wistinghausen. Die Beweise seien bisher streng geheim und das Verfahren im Stadium einer Vorermittlung. Allerdings seien die drei Richter aus Frankreich, Slowenien und Benin, die den Haftbefehl genehmigt hätten, nicht verdächtig, politisch beeinflussbar zu sein. Umso mehr ärgere sie sich im Fall Netanjahu über die Vorverurteilungen, sagte Wistinghaus. Die Bild-Zeitung habe getitelt »Haftbefehl wegen nichts«, so Wistinghausen. »Kann es sein, dass die Journalisten bessere Beweise gesehen haben, als die Anklagebehörde?«, unkte sie. Das Problem bei den Verfahren vor dem IStGH sei, dass jeder eine Meinung habe, bevor das juristische Verfahren überhaupt begonnen habe. Demgegenüber habe sie die juristische Arbeitsweise des IStGH als seriös wahrgenommen. »Es gibt vor dem IStGH auch Freisprüche«, sagt Wistinghausen, die im Völkerstrafrecht sowohl als Nebenklagevertreterin wie auch als Verteidigerin agiert hat.
- Warum hat der IStGH gegen Netanjahu und Galant Haftbefehle erlassen und nicht gegen die Hamas-Anführer?
Der Strafgerichtshof habe ursprünglich Haftbefehle gegen drei Hamas-Anführer und zwei Israelis – nämlich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und den inzwischen von Netanjahu entlassenen Verteidigungsminister Joav Galant beantragt, erklärte Ambos. »Die Israelis haben inzwischen alle drei Hamas-Anführer getötet, gegen die Haftbefehle beantragt waren, und gegen Tote kann man kein Verfahren führen«, erklärte Ambos. Er ärgere sich deshalb, wenn in der Presse geschrieben werde, dass der IStGH einseitig gegen die Israelis vorgehe.
- Sind Staatsoberhäupter nicht generell immun?
»Die Frage der Staatenimmunität ist hochkomplex und es gibt dazu unterschiedliche Ansichten«, sagte Ambos. Zunächst einmal könne ein Staat nicht vor den Gericht eines anderen Staates verklagt werden. Dies sei im Verfahren Italien gegen Deutschland bestätigt worden, als Italien Deutschland wegen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg auf Reparationszahlungen verklagen wollte. Nun sei die Frage, für wen diese Staatenimmunität gelte, weil im Völkerstaatsrecht, niemand »privat« foltere, sondern »im Auftrag eines Staates«. Generell habe sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Staatenimmunität für eine sogenannte »Troika« aus Präsident, Ministerpräsident (in Deutschland der Bundeskanzler) und Außenminister gelte. Von der Staatenimmunität ausgenommen seien laut einem Urteil im Fall »Demokratische Republik Kongo gegen Belgien« bestimmte »internationale Tribunale«. Nun gehe es in jedem Fall um die Frage, was ein »wirkliches internationales Tribunal« sei. Zumeist müssten diese Sondertribunale vom Weltsicherheitsrat der UNO eingerichtet sein, was aber beispielsweise im Fall der Ukraine wegen des Vetorechts Russlands unwahrscheinlich sei. »Wir haben den IStGH gegründet, um Staatschefs aburteilen zu können«, so Ambos. »Ein Staatschef besitzt nur so lange Immunität, wie er auch Staatschef ist«, fügte Wistinghausen hinzu. Im Völkerstrafrecht brauche es manchmal einen sehr langen Atem.
- Kann Emmanuel Macron sagen, dass er Putin verhaften und ausliefern würde, aber Netanjahu nicht?
Frankreichs Präsident sagte, dass er Netanjahu nicht ausliefern würde, aber Putin und den sudanesischen Ex-Diktator Umar Al-Baschir schon. »Das Problem ist, dass wir eben nicht sagen können, dass wir den einen Staatschef nett finden und den anderen nicht«, sagte Ambos. Auch unter deutschen Politikern habe sich die postkoloniale Denkweise durchgesetzt, dass der IStGH nur gegründet worden sei, um afrikanische Warlords abzuurteilen. Das sei aber nicht so. Wenn man es mit der internationalen Gerechtigkeit ernst meine, müsse man auch die Großen aburteilen. »Entweder es gibt Regeln und dann gelten sie auch für alle oder es gibt keine Regeln«, so der Jurist. »Entweder man glaubt an dieses Konstrukt des Völkerrechts oder man lässt es sein«, sagte Ambos und fügte hinzu: »Meine Beurteilung ist da eindeutig: Mit Regeln ist es besser. Eine regelbasierte Ordnung ist alternativlos.«
- Was passiert, wenn ein Vertragsstaat einen Haftbefehl des IStGH nicht vollzieht?
Dazu gab es erst kürzlich zwei Fälle. Die Mongolei ließ 2024 Wladimir Putin ungehindert ausreisen und im Januar 2025 ließ Italien den vom IStGH gesuchten Chef der libyschen Kriminalpolizei, Omar Najeem, der bei einem Fußballspiel in Turin festgenommen wurde, wegen eines »juristischen Formfehlers« ausreisen. Offiziell ging es dabei um fehlende Absprachen zwischen Polizei und Justizministerium. Najeem wurde in einem Flugzeug des italienischen Geheimdienstes nach Tripolis geflogen und dort unter Jubel empfangen. Dem IStGH blieb nur, Italien an seine Kooperationspflicht zu erinnern.
- Sind die Sanktionen Trumps das Ende des IStGH?
»Die Sanktionen Trumps sind eine direkte Reaktion auf den Haftbefehl gegen Netanjahu«, erklärte Wistinghausen. Allerdings hätten die USA auch schon unter Joe Biden nicht voll mit den IStGH kooperiert und klargemacht, dass sie einen Haftbefehl gegen Netanjahu nicht vollstrecken würden. Trump habe zunächst versucht, die Sanktionen gegen den IStGH per Gesetz durch den Senat zu bekommen und als sich dafür keine Mehrheit fand, per Dekret Sanktionen verhängt. Das Dekret sei relativ vage formuliert, sodass völlig unklar sei, ob sich die Sanktionen nur auf den Chefankläger, den Briten Karim Ahmad Khan oder auf alle Mitarbeiter des IStGH beziehen. Allerdings heißt es, dass auch Familienangehörige von Richtern betroffen seien. »Trump spielt bewusst mit der Unsicherheit«, sagte Ambos. Wistinghausen fügte hinzu, dass sie bereits von Kündigungen beim IStGH gehört habe, weil Richter Vergeltungsmaßnahmen gegen Angehörige in den USA befürchten. »Es ist absolut offen, wie es dort weitergeht. Im Moment machen sie in Den Haag nichts anderes als eine Krisensitzung nach der anderen«, sagte Wistinghaus. Sie könne sich allerdings nicht vorstellen, dass der IStGH an Trump zerbricht.
Ambos sagte, er hoffe und glaube, dass Trump den IStGH nicht kaputt machen könne: »Solche Idioten wie Trump werden das Völkerrecht nicht zerstören«. Man müsse beim Völkerrecht in großen Zeiträumen denken. »Es gibt eine Entwicklung, die grundsätzlich positiv ist, aber es gibt halt auch immer wieder Rückschläge«, so Ambos. Allerdings seien die Sanktionen auch ein wirtschaftliches Problem für den IStGH. Der Chefankläger Khan habe mit Microsoft ausgehandelt, dass er die Produkte der Firma unentgeltlich nutzen könne. Deshalb sei der IStGH bei der Digitalisierung deutschen Gerichten weit voraus. Durch die Trump-Sanktionen sei es völlig unklar, ob Microsoft die Kooperation mit dem IStGH fortführen könne.
- Wie werden die Kriegsverbrechen in der Ukraine verfolgt?
»Man hatte zeitweise das Gefühl, die gesamte Völkerstrafrechtswelt macht sich auf in die Ukraine um die dortige Justiz zu unterstützen«, sagt Wistinghaus. Das habe auch zu Frust bei Opfern von Kriegsverbrechen aus anderen Ländern geführt, weil dort deutlich weniger intensiv ermittelt wurde, sagt die Anwältin. Es gibt Kritik daran, dass in der Ukraine viel zu viele Akteure schlecht koordiniert und teilweise in Konkurrenz zueinander ermittelt hätten.
- Was bedeuten digitale Beweise für das Völkerstrafrecht und sind sie manipulierbar?
»Wenn das Gericht in Den Haag eine Anzeige wegen eines Massakers in Mexiko erhält, dann schauen sie natürlich zunächst einmal in digitalen Quellen, ob das plausibel ist«, sagt Ambos. Das sei ein vernünftiger Einsatz der Mittel, bevor man eine Reise an den Tatort beantrage. Außerdem sei es im Völkerrecht so, dass man oftmals nicht am Tatort ermitteln könne. Allerdings sei man sich durchaus bewusst, dass digitale Beweise manipuliert werden können. Das würde auch in die Bewertung einfließen.
- Können auch deutsche Gerichte Verbrechen im Ausland ahnden?
Die Anwendung des Weltrechtsprinzips habe sich in Deutschland ausgeweitet, sagte Ambos. Früher habe es eher die Auffassung gegeben, dass deutsche Gerichte mit den Straftaten im Inland genug zu tun hätten. Bei der Verfolgung von Straftaten im Ausland sei die deutsche Justiz auf Hinweise von Migranten angewiesen. Wistinghausen hat als Nebenklagevertreterin einer Jesidin eine Haftstrafe für eine IS-Heimkehrerin erreicht, die das Kind der Jesidin verdursten ließ. Aktuell vertritt sie in München eine weitere Jesidin. Sie sei bestürzt gewesen, zu erfahren, dass im jüngsten Abschiebeflug in den Irak vier Jesidinnen saßen, sagte Wistinghausen. (GEA)
ZU DEN PERSONEN
Kai Ambos, geboren 1965 in Heidelberg, ist Professor für Straf- und Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen sowie Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften. Darüber hinaus ist er als Richter am Kosovo Sondertribunal tätig. Natalie von Wistinghausen, geboren 1972 in Belgien, ist Fachanwältin für Strafrecht in Berlin. Aktuell vertritt sie die Opfer im Verfahren gegen den sudanesischen Ex-Milizenchef Abd-Al-Rahman vor dem Internationalen Strafgerichtshof sowie jesidische Nebenklägerinnen vor deutschen Oberlandesgerichten. (GEA)