WEINGARTEN. Der 24. Februar 2022 war ein Einschnitt. Nicht nur für die Ukraine, wo an diesem Tag Russland einfiel. Sondern auch für Deutschland, wo Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage später die »Zeitenwende« ausrief. Die Bundesrepublik müsse wehrfähig werden, lautete die Botschaft. Denn Russland sei eine Bedrohung und auf Amerika sei kein Verlass. Darum rüstet das Land jetzt auf, mobilisiert Milliarden Euro, investiert in Waffen und Personal. Die Industrie wittert das große Geschäft, die Verteidigungswirtschaft stellt sich um: Der Trend geht weg vom schweren Gerät hin zur smarten Technologie, vom Konzern zum Start-up, vom nationalen Alleingang zur internationalen Kooperation. An vorderster Front steht Baden-Württemberg: Im Land sind etliche Rüstungsfirmen ansässig – manche öffentlich, manche verdeckt. Wer was wo produziert: ein Überblick.
Russland in fünf Jahren fit für Nato-Angriff
Russland gibt sich womöglich nicht mit der Ukraine zufrieden, sondern greift in Zukunft ein Nato-Mitglied an: Das fürchten westliche Militärstrategen. Einige geben Europa eine Schonfrist von mindestens fünf Jahren: Diese Zeit brauche das russische Militär, um sich vom verlustreichen Angriff auf die Ukraine zu erholen. Andere sind pessimistischer: Europa habe »ein Zeitfenster von zwei bis drei Jahren, bevor Russland die Fähigkeit zur Durchführung eines konventionellen Angriffs wiederhergestellt hat«, schätzt etwa der Oberbefehlshaber der norwegischen Streitkräfte, Eirik Kristoffersen.
Russland hat seine Produktion auf Kriegswirtschaft umgestellt. 40 Prozent des Bundeshaushalts hat das Land im Jahr 2024 ins Militär investiert, vermutet die Europäische Kommission. Das entspricht 9 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Nato beziffert die Verteidigungsausgaben Russlands im letzten Jahr auf 462 Milliarden Dollar (kaufkraftbereinigt). Damit liegt das Land knapp vor dem Gesamtbudget aller europäischen Nato-Länder (442 Milliarden Dollar). Allerdings deutlich hinter der Investition der USA (968 Milliarden Dollar). Die USA sind somit das stärkste Nato-Mitglied, doch Präsident Donald Trump stellt die Unterstützung für die Partner im Ernstfall immer wieder öffentlich in Frage.
EU investiert 800 Milliarden Euro
Angesichts der unsicheren Lage strebt Europa nach militärischer Souveränität. In fünf Jahren will die EU sich im Falle eines Angriffs selbst wehren können. Bis 2030 will die Kommission 800 Milliarden Euro mobilisieren, dafür fahren die Mitgliedstaaten die Ausgaben hoch. Wie viel Deutschland investieren will, ist noch offen: Im Raum stehen 3,5 bis 5 Prozent der Wirtschaftsleistung (150 bis 225 Milliarden Euro). Zum Vergleich: Der gesamte Bundeshaushalt im Jahr 2024 belief sich auf 466 Milliarden Euro.
Deutschland erwartet 200.000 Jobs
Der Rüstungsboom befördert das Wirtschaftswachstum und schafft Arbeitsplätze. Das 3,5-Prozent-Ziel würde den EU-Staaten laut Ökonomen 1,5 Prozent mehr Bruttoinlandsprodukt (BIP) bescheren. Für das 3-Prozent-Ziel prognostiziert die Unternehmensberatung Kearney europaweit einen zusätzlichen Bedarf von bis zu 760.000 Fachkräften. Für Deutschland erwartet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 200.000 weitere Jobs. Gefragt seien Softwareentwickler, Ingenieure und Maschinenbauer.
Lücken bei schwerem Gerät und Hightech
Der Investitionsstau rührt daher, dass Europa die eigene Verteidigung lang vernachlässigt, verschlafen oder den USA überlassen hat. Die Europäische Kommission hat in ihrem Weißbuch Prioritäten bei der Aufrüstung benannt. Dazu gehört die militärische Erschließung des Kosmos: Für Navigation, Kommunikation und Aufklärung braucht es Satelliten, Trägerraketen, Startmöglichkeiten und Bodenstationen. Das haben bisher die USA bereitgestellt, hier will Europa eigene Fähigkeiten entwickeln.
Nachholbedarf hat Europa auch bei der Luftverteidigung. Es gibt keinen gemeinsamen Schutzschild gegen Raketen, Marschflugkörper, Kampfjets und Drohnen. Stattdessen behelfen die Länder sich mit einem Flickenteppich aus einzelnen kleinen Abwehrsystemen. Beim Luftkampf ist Europa ebenfalls auf die USA angewiesen. Sechs europäische Staaten verfügen über den US-Kampfjet F-35, der nuklear bestückt werden kann und vom Radar unbemerkt bleibt. Weitere politische Konflikte könnten jedoch die Logistikkette hinter dem F-35 unterbrechen – und ihn de facto kampfunfähig machen.
Europa fehlt laut Experten die Fähigkeit, Krieg über längere Zeit zu führen. Es verfüge zwar über gute, aber teure Waffen. Diese müssten allerdings auch gewartet und ausgetauscht werden. Auch Munition müsse in größerer Menge produziert werden. Dasselbe gilt für Drohnen: Auch hier verbaut Europa gute Technik, produziert aber weniger, teurer und langsamer als Russland. Dabei haben Drohnen im Ukraine-Krieg das Schlachtfeld verändert.
Neben klassischer Rüstung sind neue digitale Technologien kritisch. Dabei geht es um Künstliche Intelligenz, Robotik, Quantentechnologie, Biotechnologie und Hyperschall. Hier will die EU sowohl ihre defensiven als auch offensiven Fähigkeiten verbessern.
EU-Rüstungsindustrie ist zersplittert
Neben Defiziten bei einzelnen Rüstungszweigen hat Europa ein grundsätzliches Problem: Die Produktion erfolgt zu kleinteilig. Etliche Waffensysteme werden mehrfach entwickelt und für verschiedene Länder als Sonderedition in Kleinauflage gebaut. Einige Beispiele: Die europäischen Landstreitkräfte nutzen elf verschiedene Kampfpanzertypen. Die Produktion des Kampfjets Eurofighter verteilt sich über halb Europa. Italien hat zusätzlich den eigenen Kampfjet Rafale entwickelt.
Die insgesamt 2.500 kleinen und mittleren Unternehmen sind meist nicht auf industrielle Massenproduktion ausgelegt. Unter den zehn größten Rüstungskonzernen der Welt befindet sich kein EU-Unternehmen. Der transeuropäische Konzern Airbus rangierte 2023 auf Rang 12 (12,9 Milliarden Dollar Umsatz), der deutsche Branchenprimus Rheinmetall kam auf Platz 26 (5,5 Milliarden Dollar Umsatz). Zum Vergleich: Der amerikanische Weltmarktführer Lockheed setzte 61 Milliarden Dollar um.
Dank der Zersplitterung profitieren mehrere europäische Länder von Arbeitsplätzen und Wirtschaftsleistung. Doch auf der Strecke bleiben Effizienz, Preis, Tempo und Kompatibilität. Das soll sich nach dem Willen der EU-Kommission ändern. Im Weißpapier heißt es: »Wir müssen einen europaweiten Markt für Rüstungsgüter schaffen.«
Baden-Württemberg ist Schwerpunkt
Die Lücken in der europäischen Verteidigung begreift die Wirtschaft als Chance. Aus ihrer Sicht eröffnet sich dort ein neuer Markt. Einen Schwerpunkt hat die deutsche Rüstungsindustrie in Baden-Württemberg. 120 Unternehmen mit 42.000 Mitarbeitern seien in der Branche tätig, sagte kürzlich der Fraktionschef der Landtagsgrünen Andreas Schwarz.
Viele Firmen sitzen am Bodensee. Sönke Voss, Hauptgeschäftsführer der zuständigen IHK Bodensee-Oberschwaben in Weingarten, berichtet: »Egal, ob etabliertes Unternehmen oder kleines Start-up: Die Erschließung neuer Geschäftsfelder in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung ist nochmals stärker in den Fokus gerückt.« Das betreffe nicht bloß die klassische Verteidigungsindustrie. »Auch branchenfremde Unternehmen, die bisher auf die zivile Nutzung beschränkt waren, sind gefragt«, sagt Voss. Als Beispiele nennt er Automotive, Maschinenbau, IT, Robotik und Sensorik.
Rüstungskonzerne mit Tradition
In Baden-Württemberg ansässig sind internationale Rüstungskonzerne mit langer Tradition, die schweres Gerät bauen. Der größte deutsche Hersteller ist Rheinmetall mit 171 Standorten, 31.000 Beschäftigten, 9,8 Milliarden Euro Umsatz, 1.478 Millionen Euro operativem Gewinn und 55 Milliarden Euro Auftragsbestand. Der Rüstungsriese wurde 1889 in Düsseldorf gegründet und hat mehrere Niederlassungen in Baden-Württemberg, auch in Heilbronn, Neckarsulm und Stockach. Die Firma produziert komplette Systeme, bekannt sind der Kampfpanzer Panther und der Schützenpanzer Puma.
Lang im Rüstungsgeschäft tätig ist auch Diehl Defence. Der Konzern mit 120-jähriger Geschichte, 18 Standorten weltweit, 3.772 Mitarbeitern und 1.142 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2023 hat seinen Stammsitz in Überlingen und produziert Systeme zur Luftverteidigung.
Heckler & Koch fertigt Handfeuerwaffen für verschiedene Zielgruppen: Polizisten und Sicherheitskräfte, Sportschützen und Jäger, ebenso für Soldaten. Der internationale Konzern wurde vor über 70 Jahren in Oberndorf am Neckar gegründet und beschäftigt aktuell 1.100 Mitarbeiter.
Hensoldt produziert Komponenten: vor allem Radare zur Luftverteidigung, Bodenüberwachung und Drohnenabwehr. Das Unternehmen stammt aus Taufkirchen bei München, hat in Baden-Württemberg aber mehrere Standorte, unter anderem in Ulm, Pforzheim und Aalen. Hensoldt ist 125 Jahre alt, hat weltweit 8.400 Mitarbeiter und verbuchte 2,24 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2024.
Europäischer Mischkonzern
Airbus ist Europas größter Luft- und Raumfahrt- sowie zweitgrößter Rüstungskonzern. Deutschland, Frankreich und Spanien halten große Aktienanteile. Airbus produziert für den zivilen und militärischen Bereich. Die Militärsparte namens »Airbus Defence and Space« hat ihren Hauptsitz in Taufkirchen bei München und weitere Niederlassungen unter anderem in Backnang, Immenstaad und Lampoldshausen. Airbus ist Hauptauftragnehmer für das Luftkampfsystem FCAS (Future Combat Air System). Dabei handelt es sich um einen Verbund aus bemanntem Kampfjet und autonomen Drohnen. Beim europäischen Großprojekt kommen viele Zukunftstechnologien zum Einsatz wie Künstliche Intelligenz, Cloud-Speicher und Big Data. FCAS soll laut Plan im Jahr 2040 einsatzbereit sein.
Zivile und militärische Nutzung
Einige Hersteller von zivilen Gütern kooperieren mit dem Verteidigungssektor. Der Autozulieferer ZF Friedrichshafen zum Beispiel produziert auch Antriebe für militärische Fahrzeuge. Dual Use ist besonders häufig bei digitalen Technologien. Hier gibt es Traditionsunternehmen, die seit Langem beide Bereiche bedienen. Der Elektronikhersteller Rohde & Schwarz etwa entwickelt in Stuttgart Verschlüsselungstechnik für sichere Kommunikation. Zu den Kunden zählt neben Politik und Wirtschaft auch Militär.
Andere etablierte Firmen im zivilen Bereich haben ihr Portfolio erst kürzlich um eine militärische Komponente erweitert. Der Technologiekonzern Bosch mit Hauptsitz in Stuttgart baut Sensoren für Autos und Handys, aber auch für Verteidigungszwecke. Das Familienunternehmen Trump aus Ditzingen erwägt erstmals in seiner 100-jährigen Geschichte, seine Laser für industrielle Fertigung auch zur Drohnenabwehr einzusetzen.
Im digitalen Dual-Use-Bereich entstehen viele neue Start-ups. Sie sind schneller, wendiger und günstiger als alte Konzerne. Ein Beispiel ist Highcat: Die Firma produziert seit 2023 in Konstanz Drohnen für zivile und militärische Zwecke. (GEA)