REUTLINGEN. Die Erkenntnis tut vielen gläubigen Christen weh: Eine Studie aus den Disziplinarakten der evangelischen Kirche stellt fest, dass auch evangelische Pfarrer hundertfach Minderjährige missbraucht haben. Bislang hatten Protestanten und liberale Katholiken gerne argumentiert, dass Missbrauch seine Ursache vor allem in der katholischen Haltung zur Sexualität und dem Zölibat hat. Doch der Missbrauch ist ökumenisch.
Bei der Aufklärung des Missbrauchsskandals haben es die Protestanten auch nicht besser gemacht als die Katholiken. Nur zögerlich seien Personalakten herausgegeben worden und auch das nicht von allen Landeskirchen, heißt es von den Autoren der Studie. Die jetzt gefundenen Fälle seien nur »die Spitze des Eisbergs«. Ein erstes Opfer des mangelnden Aufklärungswillens der evangelischen Kirche ist die zurückgetretenen EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus. Zu lange wollte offenbar keiner genau wissen, wie häufig Missbrauch in der Kirche tatsächlich ist. Denn erst, als die Kirche eine Studie beauftragte, wurde das Ausmaß des Skandals deutlich.
Bei aller Kritik an den Machtstrukturen und am Aufklärungswillen der Kirche, darf man eines nicht vergessen: Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige und Schutzbefohlene lässt sich nicht auf die Kirchen reduzieren. Missbrauch kommt auch in Familien, in Arztpraxen, in Sportvereinen, in Schulen und Internaten, in Chören, Kinderheimen, Pfadfindergruppen und Jugendhilfe-Einrichtungen vor. Sexuelle Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das mit dem Austritt aus einer Institution nicht gelöst ist. Diese Tatsache entbindet die Kirchen jedoch nicht davon, ihre Verantwortung bei der systematischen Aufarbeitung der Vorfälle anzugehen.