BERLIN. Für die Deutschen ist Michail Gorbatschow Stifter der Deutschen Einheit, Überwinder der europäischen Spaltung und Friedensengel des Kalten Kriegs. Für die Russen ist der einstige Staatspräsident Totengräber der Sowjetunion und Politiker ohne Machtinstinkt. Am Dienstag ist der Friedensnobelpreisträger mit 91 Jahren in Moskau gestorben – enttäuscht von der erneuten Entfremdung zwischen Ost und West.
Der Bauernsohn (1931)
Gorbatschow stammt aus einfachen Verhältnissen: 1931 wurde er in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Seine Eltern – der Vater Russe, die Mutter Ukrainerin – arbeiteten als Bauern in einer Kolchose. Der junge Michail wollte jedoch aufsteigen: Nachdem er beim Wehrdienst ausgemustert worden war, studierte er Jura an der renommierten Lomonossow-Universität in Moskau.
Der Sowjet-Funktionär (1952)
Mit 21 Jahren, im Jahr 1952, trat Gorbatschow in die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ein. 22 Jahre lang setzte er sich in seiner Heimatregion Stawropol für die Partei ein – und bereitete seine steile politische Karriere vor. Danach ging es Schlag auf Schlag: 1970 wurde Gorbatschow Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, 1980 Mitglied des Politbüros, 1985 Generalsekretär der Partei und schließlich 1990 Staatspräsident der UdSSR. Gorbatschow galt als Reformer. Mit seinen Konzepten Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) schenkte er den Sowjetbürgern seit Mitte der 80er-Jahre ungekannte Freiheiten und öffnete das Reich zum Westen hin.
Der Familienmensch (1953)
Während seines Studiums in Moskau lernte Gorbatschow seine spätere Frau Raissa kennen. 1953 heiratete er die studierte Soziologin, 1957 kam Tochter Irina zur Welt. Raissa Gorbatschowa verstarb 1999 an Krebs.
Der Friedensengel (1987)
In den 1980er-Jahren schlossen die Sowjetunion und die USA Verträge zur atomaren Abrüstung. 1987 etwa unterzeichneten Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag (Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme).
Der Mauerstürmer (1989)
Die Öffnung zum Westen läutete den Verfall der Sowjetunion ein. Im Oktober 1989 tauschten Gorbatschow und DDR-Staatschef Erich Honecker noch den unter Genossen üblichen Bruderkuss. Im November fiel schon die Berliner Mauer. Gorbatschows Fazit: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«
Der Nobelpreisträger (1990)
Wegen seiner Verdienste um die Deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung ist Gorbatschow – hier 1989 beim Bad in der Menge – in Deutschland sehr populär. Vor allem die Ostdeutschen nennen ihn liebevoll »Gorbi«. Für seinen Beitrag zur Entspannungspolitik zwischen Ost und West wurde er 1990 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Der Vaterlandsverräter (1991)
Eigentlich wollte Gorbatschow den Kommunismus nur modernisieren. Doch seine Reformen führten zum Zerfall des Machtimperiums. Viele seiner Mitbürger nahmen ihm das übel. In ihren Augen war er der »Totengräber der Sowjetunion«. Nach einem Putschversuch in Moskau ergriff Boris Jelzin (links) 1991 die Macht. Kurz darauf trat Gorbatschow offiziell vom Amt des Staatspräsidenten zurück und die Sowjetunion gehörte der Vergangenheit an.
Der Enttäuschte (2020er)
Vom Westen war Gorbatschow – hier mit der damaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel 2011 vor dem Brandenburger Tor – enttäuscht. Er beklagte das »Triumphgehabe« des Westens und kritisierte die Osterweiterung der Nato als Verrat. Für ihre Rolle im Ukraine-Krieg geißelte er alle beteiligten Parteien scharf. Zwar lehnte er Russlands Angriff ab, zugleich hielt er jedoch die westlichen Strafmaßnahmen für kontrapoduktiv. »Die Sanktionen haben nur eine einzige Wirkung«, lautete sein verheerendes Urteil. »Die gegenseitige Entfremdung nimmt zu.«
Der Regimekritiker (2020er)
Am heutigen Russland übte Gorbatschow harsche Kritik: Die Kremlpartei Geeintes Russland prangerte er als »schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« an. Die Verfassung, die Gerichte, das Parlament – alles sei eine »Imitation von Demokratie«. Präsident Putin habe seine Macht so zementiert, dass anderen politischen Kräften keine Luft zum Atmen bleibe, meinte er. Der Kremlchef selbst rang sich nur ein paar knappe Worte zum Tod des Ex-Präsidenten ab: »Gorbatschow war ein Staatsmann, der gewaltigen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte ausgeübt hat.«