VILNIUS. Ein zwölf Quadratmeter kleiner Bunker irgendwo an der ukrainisch-russischen Front. Darin sechs Männer mit wenig Schlaf, viel Sprengstoff, Zündern, Drohnen – »in einem Raum dieser Größe keine gute Mischung«, sagt der Litauer Aruna Kumpis. In seiner Heimat wird er als Held gefeiert. Vom litauischen TV-Sender LRT ist er als »Europäer des Jahres 2024« ausgezeichnet worden. Diese Auszeichnung widmete er allen, die in dem Krieg bisher gestorben sind, und allen, die für Frieden und die westlichen Werte in der Ukraine kämpfen. Arunas Kumpis ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine als Freiwilliger an der Front.
Wie kommt ein Litauer dazu, sich freiwillig an die Front in der Ukraine zu melden? Das hat natürlich eine Vorgeschichte. Der drahtige Litauer mit der Glatze war Geschäftsmann und nahm in der Freizeit erfolgreich an Marathon- und Ironman-Wettbewerben teil. Er hatte in Vilnius Geschichte und an der Technischen Universität im schwedischen Lulea Electronic Business Administration studiert. »Ich begann als Angestellter und gründete dann mein eigenes Unternehmen.« Er war Geschäftsführer der im Jahr 2000 von ihm gegründeten Internetprojektgesellschaft Neosymmetria.
»Den verschanzten Feind zerstören«
In den Räumen der Hilfsorganisation Blue/Yellow in der litauischen Hauptstadt Vilnius erzählt er während eines Fronturlaubs von seinen Erfahrungen.
Im Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte und die Ostukraine besetzt wurde, änderte er sein Leben, »weil ich spürte, dass sich die geopolitische Lage veränderte und es nur eine Frage der Zeit war, bis sie eskalierte«. Zunächst meldete er sich zu den litauischen Freiwilligenstreitkräften (KASP), einer Art Territorialarmee. Dort diente er acht Jahre lang.
Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine. Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn ging er am 11. März 2022 an die Front in der Ukraine. Kumpis, der Ende Dezember 59 Jahre alt wird, sagte sich damals, »dass Litauen ein kleines Land ist und es besser ist, auf ukrainischem Territorium für Litauen zu kämpfen als darauf zu warten, dass der Krieg in meine Heimat kommt«. Kumpis ist einer von mehreren Dutzend Litauern in der ukrainischen Armee, sagt er, und er habe schon mehrfach Glück gehabt. Es seien schon Litauer gefallen oder verletzt worden. Viele seiner Landsleute kämpften gemeinsam in einer speziellen Einheit. Genaueres will er dazu verständlicherweise nicht sagen. Neben Litauern gäbe es auch andere ausländische Kämpfer in der Ukraine, darunter Briten, Italiener und vor allem Amerikaner. Die meisten Amerikaner, mit denen er zu tun habe, seien ehemalige Militärangehörige.
Als Teil einer Aufklärungs- und Sabotageeinheit ist er hauptsächlich in den gefährlichsten Abschnitten der Fronten Charkiw, Cherson und an der Donbass-Front sowie in der Umgebung von Donezk im Einsatz. Über seine Erfahrungen hat er inzwischen schon zwei Bücher geschrieben. Ein FPV-Kamikazedrohnenteam (FPV = First Person View) besteht in der Regel aus einem Piloten, einem Co-Piloten, einem Navigator und Ingenieur.
»Das erledigen dieAufklärungsdrohnen«
Zurück zu dem kleinen Bunker: »Unsere heutige Aufgabe besteht darin, mit zwei FPV-Angriffsdrohnenteams vor dem geplanten Sturm auf die russischen Stellungen den darin verschanzten Feind zu zerstören und seine ihn unterstützenden Einheiten weiter entfernt anzugreifen: Mörser, Panzerabwehrraketensysteme, Artillerie«, schreibt er auf Facebook. Es seien Offensivaktionen geplant, »wir beabsichtigen, zwei Tage hintereinander in zwei Teams von einer Position aus zu arbeiten« – in diesem Fall der Bunker. Mithilfe einer Videobrille, die das von der Drohne aufgenommene Bild in Echtzeit wiedergibt, leitet er mit Sprengstoff beladene Drohnen bei Kamikazeangriffen ins Ziel. Kumpis kämpfte auch in Bachmut und Awdijiwka. Als er sich mit dem GEA unterhielt, war er zwei Wochen zuvor von der Front gekommen.
Die Organisation Blue/Yellow sammelt Geld, um damit Nachtsichtgeräte, Laservisiere, Drohnen und anderes mehr für die ukrainische Armee zu kaufen oder herstellen zu lassen. Bisher konnte Material für 80 Millionen Euro besorgt werden. Der Regisseur Jonas Ohman, bekannt durch den Kinofilm »The Invisible Front« (»Die unsichtbare Front«) hatte die rührige NGO 2014 gegründet und leitet sie.
»Wir stoppen russische Angriffe mit Drohnen«
Der Krieg in der Ukraine demonstriert jeden Tag, welch bedeutende Rolle Drohnen in einem Krieg inzwischen spielen. Sie werden zunehmend zur entscheidenden Kriegswaffe – etwas, was die Politik in Deutschland nur spät akzeptieren wollte. Die unbemannten ferngesteuerten Fluggeräte werden zur Aufklärung, zur Panzerabwehr, für Kamikaze- und Ablenkungsaufgaben eingesetzt. Die Drohne lässt sich mit anderen Waffentypen einsetzen oder ergänzt sie. Sie ist aber »kein Alleskönner, keine Wunderwaffe«, wie Kumpis sagt. Drohnen können weder Artillerie noch Panzer ersetzen.
Niemand kundschaftet mehr zu Fuß im Rücken des Feindes aus. »Das erledigen die Aufklärungsdrohnen«, sagt der Litauer. Die Drohnen stellen allerdings eine ganz andersartige neue Gefahr dar. Höchste Wachsamkeit sei geboten, um nicht selbst – auch als einzelner Soldat – plötzlich zur Zielscheibe des Feindes zu werden. Russische Kamikazedrohnen fliegen sogar einzelne Personen an und explodieren bei der Berührung. Davonlaufen ist da kaum noch möglich.
Die Ukraine erhält auch aus Litauen Drohnen, beispielsweise über Blue/Yellow. Es sind Freiwillige, die sie aus angelieferten Teilen zusammenbauen. An der Technischen Universität oder in der »Cyber City« von Vilnius werden Drohnen konstruiert und montiert. An den Wochenenden sind Studenten und Lehrkräfte in den Räumlichkeiten der Uni damit beschäftigt. Ähnlich ist es in der Ukraine. Dort habe man das »Volksdrohnen«-Programm ins Leben gerufen. Wer mitmachen und helfen möchte, kann die Drohnenmontage erlernen.
Kumpis hat den festen Vorsatz, die Auseinandersetzung mit den Russen zu gewinnen, das heißt, die Russen zum Rückzug zu zwingen. Der Drohnenbedarf dafür ist riesengroß. Er propagiert die Massenproduktion von vergleichsweise günstigen FPV-Drohnen. Drohnen sind die Waffe, mit der die Ukrainer die russischen Artillerieüberlegenheit auszugleichen versuchen. »Wir stoppen russische Angriffe mit Drohnen.«
Der 58-Jährige spricht ruhig und leise, doch es ist spürbar, dass es in ihm arbeitet. Er kennt das Frontleben inzwischen zur Genüge und Kumpis bestätigt, dass die Ukraine zu wenig Munition hat, vor allem Artilleriemunition. Eine Konsequenz daraus sei die Verlagerung des Kampfes auf Drohnen und in die Nacht. Anfangs sei das ein sehr mobiler Krieg gewesen. Am Morgen kilometerweit von der Front entfernt, stellten sie auf ihrer Patrouille Stunden später plötzlich fest, dass sie sich nun hinter der Frontlinie auf der Gegenseite befanden. Inzwischen ist das angesichts der Minenfelder und Hindernisse nicht mehr möglich. Jetzt ist es ein Grabenkrieg. Tagsüber sei niemand zu sehen, da sei es ziemlich ruhig, weil Drohnen alles kontrollierten. »In zwei Jahren Krieg hat sich vieles sehr schnell verändert«, sagt er. »Dieser Krieg ist wie Jazz, es wird ständig improvisiert«, schreibt Kumpis in einem seiner Bücher.
Kumpis geht davon aus, dass die Russen mehr Soldaten verlieren als die ukrainische Armee. Aber es kämen immer neue Soldaten an die Front. Im Westen verstehe man nicht, dass es die russische Führung nicht interessiere, wie viele Russen an der Front getötet oder verletzt werden.
»Krieg kann den stärksten Mann zerbrechen«, sagt er. »Soldaten benötigen Erholungsphasen, sie müssen rotieren, sie müssen regelmäßig Fronturlaub bekommen. Das sei auch aus moralischer Sicht sehr wichtig. Im Sommer sei das eher möglich als im Winter, wo Kälte und Müdigkeit besonders zusetzen und eine Rotation oft nicht möglich ist.« Man werde krank und müsse trotzdem die Stellung halten. Das hat er schon selbst erlebt. »Eines der größten Probleme der ukrainischen Streitkräfte ist heute der Personalmangel«, sagt er. Die Ukraine müsse weitere Soldaten mobilisieren. Weiter auf Freiwilligkeit und auf Patrioten zu hoffen, ist offenbar keine Option mehr. Seine Einheit befindet sich in der Regel drei bis vier Tage an einem Ort direkt an der Front, dann wird die Einheit zur Erholung und Überprüfung der Ausrüstung rund 20 Kilometer hinter die Frontlinie zurückgezogen, ehe es wieder nach vorne geht. Die Drohnen werden direkt aus den Gräben heraus eingesetzt. Nachts verlegen sie Minen, tagsüber greifen sie mit Drohnen an. Ihre Kommunikation läuft übers Internet. Es seien Panzer so ausgerüstet worden, dass sie via Internet im Panzer auf einem Bildschirm die Übertragung des Geländes von einer Aufklärungsdrohne sehen können.
»Die roten Linien sind nicht richtig«
Auf die teils schlechte medizinische Versorgung im Frontbereich angesprochen, sagt Kumpis, die ukrainischen Soldaten hätten eine gewisse Fatalität entwickelt, man rede nicht darüber und denke nicht daran, was passieren könnte. Wie verarbeitet er das alles? »Mir persönlich hilft Laufen dabei, meine Gedanken zu ordnen, ebenso wie Schreiben.« In diesen Situationen sei es wichtig, in Form zu bleiben, sagt er in der LRT Radio-Sendung »Pas Nemir«.
Kumpis kritisiert die deutsche Zögerlichkeit und Angst vor Russland: »Die roten Linien sind nicht richtig.« Das entwertet seiner Auffassung nach die »sehr große deutsche zivile wie militärische Hilfe«. Stattdessen sollten Russland rote Linien aufgezeigt werden. »Frieden entsteht, wenn einer der Gegner erkennt, dass er verlieren könnte, und sich dann an den Verhandlungstisch setzt.« (GEA)