BERLIN. Neutrales Territorium sollte es sein. Nachdem die Verhandlungen in den vergangenen Tagen abwechselnd in den Parteizentralen und der bayerischen Landesvertretung stattfanden, jetzt also die Verkündigung des Ergebnisses im Paul-Löbe-Haus des Bundestages. Es kommt nicht häufig vor, dass man dort so viele Menschen sieht, wo früher die Grenze Ost- und Westdeutschland durchschnitt. Im kathedralenhohen Foyer ist die Hauptstadtpresse versammelt, in der ersten Reihe sitzen die Chefverhandler, von der Galerie blicken Abgeordnete und ihre Mitarbeiter auf die Bühne herab, wo der künftige Bundeskanzler zusammen mit den Spitzen von CSU und SPD zur Pressekonferenz geladen hat. »Intensive Beratungen« seien es gewesen, sagt Friedrich Merz. »Deutschland bekommt eine handlungsfähige und eine handlungsstarke Regierung.«
45 Tage hat es gedauert von der Neuwahl bis zum fertigen Koalitionsvertrag. Einer Wahl, aus der beide Parteien nicht gerade als Sieger hervorgegangen sind. Die SPD holte ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl, die Union ihr zweitschlechtestes. Die einstige GroKo ist ziemlich eingeschrumpft. Entsprechend groß war der Druck auf beiden Seiten, das Ergebnis am Ende als Erfolg zu verkaufen. Entsprechend festgefahren waren die Positionen während der Verhandlungen.
»Deutschland bekommt eine handlungsstarke Regierung«
Vor allem die Sozialdemokraten taten sich anfangs schwer, in diese Gespräche einzutreten. Die Merz-Union ist nicht mehr die Merkel-Union. Und schon damals war die Koalition mit CDU und CSU nicht sonderlich beliebt bei der SPD. Der harte Wahlkampf und die Abstimmung der Union gemeinsam mit der AfD über Migrations-Anträge wirkten nicht gerade vertrauensbildend. Mit dem Schuldenpaket wechselte der Frust die Seite. Plötzlich war es die Basis der Union, die unzufrieden war mit den Verhandlungen.
Wie lang der Weg war, hört man auch aus den Statements von Friedrich Merz und Lars Klingbeil am Mittwoch heraus. Man habe sich das »Vertrauen erarbeitet«, sagt der CDU-Chef. Es sei über die Zeit »gewachsen«, sagt Klingbeil.
Noch größer jedoch als diese Vorbehalte aber war der Druck, der auf den Verhandlern lag. Da ist Putin, der Krieg in der Ukraine führt. Donald Trump, der Sicherheitsgarantien infrage stellt. Nochmal Donald Trump, der einen Handelskonflikt gegen die ganze Welt führt. Immerzu beteuerten die Verhandler, dass man angesichts dieser Aufgaben »schnell zu einer Lösung« kommen müsse. Und Scheitern – auch das betonten beide Seiten – sei keine Option.
Eigentlich sollte schon am Dienstag der Knoten durchschlagen sein. 13 Stunden hocken die 19 Verhandler in der CDU-Zentrale am Tiergarten aufeinander. Nicht alle immer im großen Saal, sondern verteilt nach Zuständigkeiten in verschiedenen Räumen. Wenn die Parteichefs in einem Punkt übereinkommen, prüfen die Fachpolitiker das Ergebnis. Die Einschätzungen werden an die Chefs rückgespiegelt. Dann kann es sein, dass der eben gefundene Kompromiss verraucht wie eine Zigarette im Wind.
Für die Presse sind Koalitionsverhandlungen immer ein großes Begängnis, dazwischen angespanntes Warten und der ständige Blick auf das Handy. Etwa zur Tagesschauzeit platzt die Meldung herein: Union und SPD haben sich geeinigt. N-TV berichtet und bezieht sich auf mehrere Quellen. Die zwei Dutzend vor dem Adenauer-Haus wartenden Reporter und Kameraleute werden unruhig. Sie bekommen Mails, SMS und Anrufe aus ihren Zentralen. Müssen wir den Bericht auf der Titelseite austauschen? Was hörst Du? Wer könnte uns was sagen? Von drinnen dringt nichts nach draußen. Anders noch als während der großen Verhandlungen in den Arbeitsgruppen, als die Zwischenergebnisse an Journalisten weitergegeben wurden. Die Verhandler schienen sich zum Ende hin diszipliniert zu haben.
Erschüttert wird die Meldung, als der SPD-Vize Achim Post das Adenauer-Haus verlässt. Der Finanzexperte hat einen Stoß Papiere unter dem Arm. »Ich gehe jetzt mal ein Bier trinken und muss das hier durchrechnen«, sagt er und verschwindet in der Nacht. Kann es eine Einigung geben, wenn Finanzfragen offen sind? Bei Steuern und Staatshaushalt prallen zwei Weltbilder zusammen. Die SPD will den Wohlhabenden mehr abnehmen, um denen mehr zu geben, die wenig haben. CDU und CSU wollen das Gegenteil.
Nach dem kurzen Aufreger um Post, passiert lange nichts. Ein Reporter schaltet auf seinem Handy Fußball ein. In der Champions League spielt Bayern gegen Inter Mailand. Um ihn herum bildet sich eine Traube. Auch bei der CDU wird in einem Raum das Spiel gezeigt. SPD-Chef Klingbeil ist glühender Bayern Fan, hat aber natürlich keine Zeit zu gucken. »Wenn Bayern verliert, kriegt Klingbeil schlechte Laune und die Reichensteuer wird gleich einen Punkt hochgesetzt«, wird unter den Journalisten geulkt. Es sind Witzchen gegen die einsetzende Müdigkeit, dazwischen ein paar Kippen und ein Biss in geschmierte Stullen.
»Man muss sich von liebgewordenen Projekten verabschieden«
Die Nacht wird frisch, es hat sieben Grad. Um kurz vor Mitternacht fährt ein schwarzer SUV mit Münchner Nummer aus der Tiefgararge des CDU-Hauptquartiers. CSU-Chef Markus Söder verlässt die Verhandlungen. Ein gutes Stück danach tritt Doro Bär aus dem Eingang. »Wir sind auf einem guten Weg. Alles wird gut, alles wird gut«, flötet sie und steigt in einen Wagen. In diesem Moment ist klar, das wird nichts mehr in dieser Nacht. Es fehlt nicht mehr viel, aber Union und SPD brauchen noch einen frischen Morgen.
Viel Schlaf bleibt ihnen dafür nicht. Besonders früh dran sind die Sozialdemokraten, die am Mittwoch schon um kurz nach acht vor dem Konrad-Adenauer-Haus vorfahren: Matthias Miersch ist der erste, Hubertus Heil kurz danach, Parteichef Lars Klingbeil etwas später. Alle sind sie etwas wortkarg, die Nacht war kurz. Friedrich Merz fährt gegen 8.30 Uhr vor und verschwindet in der Tiefgarage. Nach und nach treffen auch die Spitzen der Union ein. Manche gehetzt, wie der parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei. Andere betont gelassen, wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Immerhin zuversichtlich sind sie alle. »Heute lohnt sich das Warten«, beruhigt SPD-Generalssekretär Matthias Miersch die wartenden Journalisten. Unter anderem die Verteilung der Ressorts muss zu diesem Zeitpunkt noch verhandelt werden. Auch beim Thema Energie gibt wohl es noch Streitpunkte.
Gegen 12 Uhr dann die Meldung vom Durchbruch. Nun hat Friedrich Merz also bekommen, was er wollte. Jetzt geht es darum, den Durchbruch als Sieg zu verkaufen. Friedrich Merz beginnt gleich mit den besonders umkämpften Punkten. Bürgergeld? Wird ersetzt durch eine neue Grundsicherung. Steuern für Unternehmen? Gehen nach unten. Migration? Da werde man einen »neuen Kurs einschlagen«, sagt Merz. Heißt: Familiennachzug aussetzen, die Zahl der Herkunftsstaaten deutlich erhöhen, Zurückweisungen an der Grenze. Klingt erstmal nach Verhandlungserfolg.
Mit einem mehr oder weniger humorigen Auftritt versuchte es Markus Söder. Das C in CSU steht nicht für Commerz, sagt Söder, nachdem er mehrere Minuten lang vorgelesen hatte, wie der Koalitionsvertrag vor allem Unternehmern hilft. Außerdem sei die CSU total bescheiden, weshalb man nur drei Ministerien beansprucht. Nach einem kurzen Applaus zu seinen Ausführungen zur Mütterrente, richtet Söder sich zu seinen Mitverhandlern: »Könnt ihr mal sehen, hab’ ich recht g’habt.« Ob das alles auch bei den Wählern ankommt, wird sich zeigen.
Denn genauso wenig wie das Wahlergebnis von Ende Februar glänzte, so wenig glänzten die ersten Verhandlungsergebnisse zuletzt in den Augen der Union und ihrer Wähler. In den Umfragen verliert sie einige Zähler, was nicht schlimm wäre, wenn sie nicht den heißen Atem der AfD spürte. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos sieht die Rechtspoplisten das erste Mal vorn, andere die Union nur noch hauchdünn über der AfD.
Die Stimmungsdeuter von Forsa haben sich die Zahlen genau angeschaut. Unter Alt-Kanzlerin Merkel konnte die Partei nach Wahlen ihr Ergebnis halten oder sogar ausbauen. Nicht so bei Merz, dem alten Merkel-Gegenspieler. Laut Forsa halten ihn 60 Prozent der Wähler für ungeeignet als Regierungschef.
Es sind verkehrte Rollen – verglichen mit den vergangenen schwarz-roten Koalitionen. War es damals die SPD, die gegen die Koalition wetterte (»Nikolaus ist Groko-Aus«, dichtete damals Kevin Kühnert), sind es heute die Unionsanhänger, die zuletzt Kritik übten. Außgerechnet in der einst als »Kanzlerwahlverein« geschmähten Union ist die Unzufriedenheit über eine Koalition mit Unions-Kanzler groß. Am Wochenende drohte der Chef des Parteinachwuchses von der Jungen Union gar mit einem Nein zum Koalitionsvertrag. Zu viel SPD-Rot sei darin, zu wenig konservatives Schwarz.
»Hinter uns liegt ein hartes Stück Arbeit, aber vor uns ein starker Plan«
Die Union ist aber auch die Union. Der Zufall will es, dass am Dienstagabend der JU-Frühlingsempfang in Berlin gefeiert wird. Doch vom Aufmucken keine Spur mehr. JU-Chef Johannes Winkel wird zahm. Besser regieren als nicht zu regieren, lautet die ungeschriebene Maxime der Union.
Aber auch die SPD muss das Ergebnis als Sieg verkaufen. Zumal die SPD-Mitglieder noch über den Koalitionsvertrag abstimmen müssen. Lars Klingbeil klingt da manchmal etwas zurückhaltender als seine Mitverhandler. Verweist auf das bereits beschlossene Sondervermögen und die sieben Ministerien für die SPD. Man müsse »Gewissheiten hinterfragen«, sagt er. Und sich »von liebgewordenen Projekten verabschieden.« Die harten Ausführungen von Friedrich Merz zur Migration dämpft Klingbeil etwas: »Deutschland bleibt ein Einwanderungsland«, sagt er. »Wer sich integriert, gehört dazu.« Der SPD-Mitgliederentscheid wird die letzte Hürde sein für diese Koalitionäre.
Nur all der Druck, der bisher auf den Verhandlern lag, ist deshalb nicht aus der Welt. Ganz im Gegenteil. Handelsstreit, Krieg und eine AfD, die bei deutlich über 20 Prozent in den Umfragen steht: Der Druck für Schwarz-Rot geht jetzt eigentlich erst so richtig los. Das weiß auch der künftige Kanzler. »Hinter uns liegt ein hartes Stück Arbeit«, sagt er. »Aber vor uns liegt ein starker Plan.« Wie stark der wirklich ist, muss Merz in den kommenden Wochen und Monaten beweisen. (GEA)