TÜBINGEN. Für viele ist Religion ein Teil der Identität. Ein Anker, der die Entfaltung ermöglicht. Für andere verhindert sie Freiheit. Vor allem, wenn sie von Staaten für sich beansprucht wird. Gerade hat die katholische Kirche einen neuen Papst gewählt.
Bruder Paulus, bekannt aus Talkshows, verfolgte das als Kapuzinermönch naturgemäß mit großem Interesse. »Robert Francis Prevost hatte kaum jemand auf dem Zettel«, sagte Bruder Paulus. Mit der Wahl sei er sehr zufrieden, stehe er doch für die moderaten Kräfte. »Er wird den bisherigen Weg weitergehen.« Doch auch Religionskritiker Hamed Abdel-Samad sah sich das Wahlspektakel im Fernsehen an, wie Tübingen erzählte. »Ich weiß auch nicht warum, das mit dem Rauch ist eine schöne Folklore.« Den letzten Papst fand er »hervorragend« und hofft, dass der neue sich ebenso für Frieden beispielsweise im Nahen Osten einsetzt.
Bruder Paulus und Hamed Abdel-Samad diskutierten auf Einladung des neuen Kunstmuseums über Religion und Freiheit. Das Museum möchte nicht nur Kunst und Kultur vermitteln, sondern auch eine Plattform für Dialog sein. Um diese zu schaffen, waren allerdings strenge Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Mehrere Bundespolizeibeamte und ein privater Sicherheitsdienst kontrollierten die Besucher. So wurden die Taschen der knapp 100 Besucher gefilzt, es gab speziell abgeschirmte Bereiche und mindestens drei Personenschützer überwachten den Ablauf der Veranstaltung. Für Abdel-Samad gilt die höchste Sicherheitsstufe. Geboren 1972 in Gizeh in Ägypten, studierte er Sprachen und Politik. Als Student war er Mitglied der Muslimbruderschaft. Später arbeitete für die Unesco, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur in München.
Hamed Abdel-Samad übt seit Jahren scharfe Kritik am politischen Islam und ist dadurch zur Zielscheibe islamistischer Extremisten geworden. Seine Bestseller wie »Mohamed – eine Abrechnung«, »Aus Liebe zu Deutschland« und aktuell »Der Preis der Freiheit: Eine Warnung an den Westen« sorgten für Aufsehen.
Im Juni 2013 hielt Abdel-Samad in Kairo einen Vortrag, in dem er den Islamismus als eine Form des Faschismus bezeichnete. Daraufhin rief der ägyptische Geistliche Assem Abdel-Maged öffentlich im Fernsehen dazu auf, ihn zu töten, da seine Aussagen eine Beleidigung des Propheten seien. Auch Mahmoud Shaaban, Professor an der al-Azhar-Universität, wiederholte diesen Mordaufruf. In der Folge wurden seine Aufenthaltsorte in Kairo im Internet veröffentlicht, was seine Sicherheit weiter gefährdete.
Seitdem lebt Abdel-Samad unter ständigem Polizeischutz in Deutschland. Sein Alltag ist stark eingeschränkt; jede Bewegung muss im Voraus mit dem Landeskriminalamt Berlin abgestimmt werden. Doch nicht alle Moslem sehen ihn gleichermaßen skeptisch, wie er in Tübingen erzählte. Einmal wurde Abdel-Samad in Bosnien in eine Moschee zur Diskussion eingeladen und der Imam bot ihm eine Zigarette an.
»Ich habe nichts gegen Religionen, wenn sie mein Leben nicht bedrohen«
Abdel-Samad nahm sie an, obwohl er eigentlich Nichtraucher ist. »Wenn wir so einfach miteinander umgehen, können wir uns begegnen«, sagte Abdel-Samad. Obwohl es an sich verboten ist, rauchten die Männer im Gotteshaus und tauschten ihre Meinungen aus. »Wir haben gegenseitig etwas von uns gelernt. Natürlich ist es keinem von uns gelungen, den anderen zu überzeugen«, sagte Abdel-Samad. »Ich habe nichts gegen Religionen, wenn sie mein Leben nicht bedrohen.« Zu oft würden sie aber als Schutzschild und Waffen eingesetzt. »Dann werden Andersgläubige oder Nichtgläubige systematisch ausgeschaltet«, sagte Abdel-Samad. »Zu oft bestimmen Fanatiker den Kurs.«
Pater Paulus, mit vollem Namen Paulus Terwitte, entgegnete, dass die Gewalt nicht in den Religionen selbst begründet liege. Denn diese wollten das Heilige schützen und nicht Menschen dominieren. Waren die Christen in ihren ersten 300 Jahren selbst Verfolgte, kehrte sich das unter Konstantin dem Großen um, der das Christentum zur Staatsreligion machte. »Gottesleugner wurden verfolgt, drangsaliert und es folgten Kriege und Eroberungen«, räumte der Geistliche ein. Direkt nach seinem Abitur trat er dem Kapuzinerorden bei. Er studierte Theologie und lernte als katholischer Priester, Seelsorge und Psychotherapie mit sozialem Engagement zu verbinden. Er war Vorstand der Franziskustreff-Stiftung, die seit mehr als 25 Jahren in der Frankfurter Innenstadt eine Obdachlosenspeisung anbietet. 2021 wurde er für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Terwitte leitet heute das Kapuzinerkloster St. Anton in München und arbeitet für bundesweite Medien journalistisch.
»Alle Vertreter von Religionen könnten etwas demütiger sein, nach dem Unheil, das diese in der Welt angerichtet haben«, sagte Abdel-Samad. Man sollte nicht alles für bare Münze nehmen. »Es ist noch niemand vom Tod zurückgekommen.« Die Religion sieht er auch als Hauptursache des Gaza-Konflikts. »Die Hamas hat einen großen Hass auf die Juden und die israelische Regierung auf die Palästinenser«, sagte Abdel-Samad. Jede Seite wähne Gott auf ihrer Seite. »Dabei gibt es genug Land und genug Essen für alle dort.« Aus Bruder Paulus’ Sicht entstehen die Schwierigkeiten, wenn Politiker ihre Entscheidungen mit Religion »aufblasen«. Doch auch andere Ideologien seien gefährlich. In der DDR zum Beispiel waren Religionen ebenso verboten wie im ersten Atheistenstaat Albanien.
»Religion gehört zum Leben. Die Welt wird dadurch erschlossen«
Bruder Paulus wurde vier Tage nach der Geburt getauft und in seiner bayerischen Heimat waren fast alle katholisch. »Wir müssen andere auch anders sein lassen.« Wer welcher Religion angehöre, sei zumeist Zufall, sagte Abdel-Samad. »Ich wurde in Ägypten geboren und mein Vater war Imam.« Wer in einem christlichen Land aufwachse, sei zu 95 Prozent Christ, in einem muslimischen zu 99 Prozent Moslem. »Das ist keine eigene Entscheidung«, sagte Abdel-Samad. Er sprach sich dafür aus, zuerst das Denken zu trainieren, bevor man eine Religion ausübe. Für Bruder Paulus hingegen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Eltern ihren Kindern mitgeben, was sie trägt – genauso wie die Sprache und die Kultur. Von »Indoktrination«, wie Abdel-Samad es nannte, wollte er nichts wissen: »Religion gehört zur Lebensgeschichte und die Welt wird dadurch erschlossen.« (GEA)