HANNOVER. »Ich freue mich auf den ersten Gottesdienst ohne Gesichtsmasken und Pflichtabstände«, bekannte Heinrich Bedford-Strohm gestern bei einer virtuellen Pressekonferenz. Wann das allerdings sein werde, konnte der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) noch nicht sagen. Er zog eine Art Zwischenbilanz zur Lage der Kirche in der Coronakrise. Sie hat, so das Ergebnis einer Studie in den Landeskirchen Württemberg, Nord, Mitteldeutschland und Kurhessen-Waldeck einen regelrechten Digitalisierungsschub erlebt.
Schlimme Dilemma-Situation
»Es kann keine Rede davon sein, dass wir uns in der Coronakrise weggeduckt hätten«, sagte Bedford-Strohm am Dienstagvormittag etwa zu Vorwürfen, die Kirchen hätten sich zu wenig gegen die Gottesdienstverbote durch die Politik gewehrt. »Entscheidend war für uns die ganze Zeit, Freiheit und Verantwortung zu verbinden. Ich bin überzeugt, dass das richtig war«, so der Ratsvorsitzende. »Ich bin da ein bisschen stolz auf unsere Kirche und die Mitarbeiter«, sagte der Bischof. Man habe beherzt reagiert.
»Am schwersten war die Abwägung über die Seelsorge in den Altersheimen und Kliniken«, berichtete Bedford-Strohm. »Das Thema war immer mit auf dem Tisch. Es war eine richtig schlimme Dilemma-Situation.« Angesichts zum Teil hoher Todeszahlen hätten viele Pflegeheimleitungen eben Angst gehabt. Auch Schutzkleidung für Seelsorger habe in vielen Heimen gefehlt oder hätte dann nicht mehr für Pflegende zur Verfügung gestanden. »Wären wir da bestimmter gewesen, hätten wir vielleicht die Todeszahlen hochgetrieben«, so der Landesbischof. »Wir haben versucht, Nähe herzustellen, ohne Menschen zu gefährden.«
Die Politik habe in der Coronakrise das Ziel gehabt, »das Schlimmste zu verhindern«. Er zum Beispiel sei die ganze Zeit über mit dem Bundesinnenministerium einerseits und der bayrischen Landesregierung in Kontakt gewesen, erzählt der Landesbischof in München. Es sei zwar auf allen Seiten »viel guter Wille« da gewesen, doch habe es zum Teil auch unterschiedliche Einschätzungen gegeben. »Da hieß es auf Bundesebene dann mal, man dürfe keinesfalls singen, während in Bayern leises Singen mit Mundschutz und Abstand möglich erschien«, so Bedford-Strohm. Auch auf EKD-Ebene machten unterschiedliche Vorgaben etwa für Gottesdienste oder Teilnehmerzahlen von Beerdigungen die Lage kompliziert.
Als Konsequenz aus der Coronakrise haben viele evangelische Gemeinden digitale Verkündigungsformate wie Gottesdienste und Andachten angeboten. Der neuen repräsentativen Stichprobe in den vier Landeskirchen zufolge haben 81 Prozent der Gemeinden solche digitalen Angebote gemacht, 78 Prozent zum ersten Mal. 72 Prozent der Kirchengemeinden wollen auch nach dem Lockdown weiterhin digitale Formate anbieten, heißt es in der Studie.
Die Angebote übers Internet haben zu einem wahren Nachfrage-Boom geführt, berichtet Daniel Hörsch, der als Sozialwissenschaftler bei der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (Midi) arbeitet. Bei den vier untersuchten Landeskirchen erreichten die digitalen Angebote rund 6,55 Millionen Menschen. Im Vergleich mit der durchschnittlichen Gottesdienstbesucherzahl an einem normalen Sonntag errechneten die Forscher einen Zuwachs von 287 Prozent. In der Krise habe sich die Kirche im Zusammenhang mit Sinnfragen und den Erschütterungen durch Krankheits- und Todesfälle als lebensrelevant erwiesen, so die Schlussfolgerung Hörschs.
Nicht alles lief in den vier untersuchten Landeskirchen parallel. So seien in Württemberg »mit seiner stabilen Gottdienstkultur« die digitalen Gottesdienste enorm gefragt gewesen, während woanders eher digitale Andachten angeklickt wurden.
Digitales Abendmahl
»Der Gottesdienst ist nach der Corona-Pandemie spürbar facettenreicher geworden«, stellte auch Bedford-Strohm fest. Herkömmliche Präsenzgottesdienste würden »ihre zentrale Funktion natürlich behalten«. Doch seien durch die Digitalisierung vielfältige neue Angebote und Beteiligungsmöglichkeiten entstanden und auch weitere Gläubige erreicht worden. »Alle diese digitalen Formate ersetzen nicht die persönliche Begegnung in unseren Kirchen. Deswegen finde ich es spannend, dass es nun viele Gottesdienste gibt, die sowohl in den Kirchen als auch im Internet mitgefeiert werden können«, soll der EKD-Ratsvorsitzende zu den neuartigen »hybriden«, also analog-digitalen Gottesdiensten.
Noch viel Gesprächsbedarf besteht in der evangelischen Kirche offensichtlich über das Abendmahl. Das, so Bedford-Strohm, sei mit »sehr strengen, klaren Hygieneregeln« zurzeit bereits möglich. Manche Kirchengemeinden warteten aber vorsichtshalber ab, bis die Anti-Corona-Beschränkungen aufgehoben sind. Circa zwölf Prozent hätten sich auch für ein »digitales Abendmahl« mit Teilnehmern zu Hause am Computer entschieden. Die EKD will das noch gründlich diskutieren. Bedford-Strohm: »Das ist eine neue und grundsätzliche Frage. Das wollen wir klären, wenn wir uns auch physisch wieder treffen können und nicht nur digital.« Was Gemeinschaft bedeute, sei sehr unterschiedlich, hat er festgestellt. Während für ältere Menschen ehe die physische Gemeinschaft zähle, erlebe die jüngere Generation Gemeinschaft auch digital, hat er beobachtet.
Welche Konsequenzen die EKD aus den jüngsten Erfahrungen ziehen wird, ist noch nicht ausgemacht. Man warte auf Rückmeldungen aus den Landeskirchen und auf die Ergebnisse einer internationalen Studie, sagte Bedford-Strohm. Sicherlich würden sich die Gremien aber damit beschäftigen, dass über die digitalen Kanäle viele Menschen erreicht würden, die klassisch nicht zu erreichen seien. Es gehe ferner um digital gestützte Beteiligungselemente und die Frage, wie Kirche für die junge Generation als Heimat empfindbar gemacht werden könne. (GEA)

