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Die Nähstube der Welt im Umbruch

Dicht an dicht sitzen die Näherinnen in der Hot Lun Fabrik in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. 800 nähen auf einem einzigen Stockw
Dicht an dicht sitzen die Näherinnen in der Hot Lun Fabrik in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. 800 nähen auf einem einzigen Stockwerk Spitzenunterwäsche für deutsche Marken wie H+M und Primark. Die Kleidungsfabrik ist ein Vorzeigebetrieb. Foto: Emanuel K. Schürer
Dicht an dicht sitzen die Näherinnen in der Hot Lun Fabrik in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. 800 nähen auf einem einzigen Stockwerk Spitzenunterwäsche für deutsche Marken wie H+M und Primark. Die Kleidungsfabrik ist ein Vorzeigebetrieb.
Foto: Emanuel K. Schürer

DHAKA/GENF. Bangladesch lebt im Wesentlichen von seiner Bekleidungsindustrie. Kleidung macht rund 90 Prozent der Exporte aus. Als 2013 ein als Kleidungsfabrik genutztes Gebäude an der Rana Plaza in Sabhar bei Dhaka einstürzte und über 1 100 Menschen starben, war das eine Katastrophe für das ganze Land. Gleichzeitig warf es ein Schlaglicht auf die Misere der Industrie. Obwohl sich bereits Risse aufgetan hatten, waren die Arbeiter gezwungen worden, weiter zu arbeiten.

International war die Empörung über die Zustände in den Kleidungsfabriken groß. Auf diesen moralischen Druck hin unterzeichneten große Marken-Artikler, Händler und Gewerkschaften einen »Accord über Feuerschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch«. Daraus ging eine Organisation hervor, die die Kleidungsfabriken auf ihre Sicherheit hin untersuchte. Aus Deutschland gehören dazu unter anderen Adidas, Aldi, Esprit, Hugo Boss, Kik, Lidl, Otto, Puma, Rewe, Seidensticker, S. Oliver, Takko und Tchibo.

An der Rana Plaza, wo 2013 die Textilfabrik einstürzte, erinnert nur ein kleines Denkmal an die Katastrophe. Die 45-jährige Maks
An der Rana Plaza, wo 2013 die Textilfabrik einstürzte, erinnert nur ein kleines Denkmal an die Katastrophe. Die 45-jährige Maksuda, die ihren 18-jährigen Sohn hier verloren hat, kommt jeden Tag hierher. Foto: Emanuel K. Schürer
An der Rana Plaza, wo 2013 die Textilfabrik einstürzte, erinnert nur ein kleines Denkmal an die Katastrophe. Die 45-jährige Maksuda, die ihren 18-jährigen Sohn hier verloren hat, kommt jeden Tag hierher.
Foto: Emanuel K. Schürer

Internationale Arbeitsorganisation

»In der Konsequenz wurden alle Fabriken inspiziert, gegebenenfalls umgebaut oder von Maschinen entlastet oder aber ganz geschlossen«, berichtet Srinivas Reddy. Er hat bis Ende 2018 für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, in Bangladesch gearbeitet. Die ILO hatte nach dem Unglück dazu beigetragen, Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften an einen Tisch zu bringen.

Ein Boykott des Landes wäre für die ILO keine Lösung gewesen, sagt Reddy in Genf. Bangladesch hätte nicht auf die Produktion von Fertigkleidung verzichten können. Das Land ist laut Reddy mit seinen gut ausgebildeten Näherinnen nach wie vor »ein großer Produzent billiger Massenware von großer Präzision und Termintreue«. Kinderarbeit ist in den exportorientierten Kleidungsfabriken überwunden, sagt Reddy, der nun in der ILO-Zentrale in Genf arbeitet. Manche Kleidungsproduzenten seien wegen der Verteuerung durch die neuen Sicherheitsvorschriften nach Ruanda oder Äthiopien abgewandert, stellte er fest.

Sadaf Saaz ist  Textilunternehmerin und gleichzeitig Aktivistin bei der Frauenrechtsorganisation Naripokkho, Schriftstellerin un
Sadaf Saaz ist Textilunternehmerin und gleichzeitig Aktivistin bei der Frauenrechtsorganisation Naripokkho, Schriftstellerin und studierte Mikrobiologin. Foto: Emanuel K. Schürer
Sadaf Saaz ist Textilunternehmerin und gleichzeitig Aktivistin bei der Frauenrechtsorganisation Naripokkho, Schriftstellerin und studierte Mikrobiologin.
Foto: Emanuel K. Schürer

Die Unternehmer

Beim Verband der Fertigbekleidungshersteller und Exporteure in Bangladesch (BGMEA) ist man wenig begeistert, dass eine Gruppe deutscher Journalisten mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) über die Lage der Näherinnen recherchiert. Dass ihr Image in westlichen Medien nicht das beste ist, ist den Fabrikanten nur zu bewusst. In den vergangenen fünf Jahren habe sich aber viel getan, beteuern die Unternehmer Asif Ibrahim, Miran Ali und Mohammad A. Momen bei einem Treffen in Dhaka unisono. »Normalerweise kommen Journalisten her, wenn etwas brennt oder einstürzt, sonst eher nicht«, so die Erfahrung Miran Alis, der nach eigenen Angaben fünf Fabriken leitet. Man habe nach Rana Plaza verstanden, dass Reformen nötig seien. Einiges sei auch noch zu tun, räumt Ali ein. »Wir sind heute die transparenteste Bekleidungsindustrie der Welt«, betont er aber auch. Ob Myanmar, China oder Kambodscha, kein anderes Land biete so viel Transparenz.

»Wir haben nun Weltklassefabriken hier in Bangladesch«, beteuert der Textil-Unternehmer Asif Ibrahim. Leider zahle sich das aber nicht aus, beklagt sein Kollege Ali. Die Unternehmer fühlen sich von Europa und Amerika unfair behandelt. »Die Anforderungen an uns sind groß, aber die Wegwerfmentalität der Käufer bleibt und der Preis der Waren soll nicht steigen«, beklagen sie. Hinzu komme, dass gerade die deutschen Großabnehmer sehr viel Marktmacht besitzen und zudem Zwischenhändler einschalten.

»Nach Rana Plaza wurde uns viel Geld zugesagt, es kam aber nichts an«, beklagt Ibrahim. »Wir werden wie Kolonien behandelt.« Sein Kollege Mohammad A. Momen stößt ins selbe Horn. Der Handel laufe unfair, Europa profitiere davon. Momen: »Sie können ein Hemd heute für den Preis eines Mittagessens kaufen. Wie kann das sein?« Dabei setze man unter anderem bereits energiesparende Lampen und Nähmaschinen ein oder recycle Dampf, heißt es. Bei der Qualität ihrer Produkte wollen sie weiter zulegen und sind sicher, dass sie vor der Konkurrenz etwa in der Türkei und Marokko liegen.

Der us-amerikanische Gewerkschafter Rob Wayss leitet die Kontrollorganisation des Accord on Fire and Building Safety in Banglade
Der us-amerikanische Gewerkschafter Rob Wayss leitet die Kontrollorganisation des Accord on Fire and Building Safety in Bangladesch. Foto: Emanuel K. Schürer
Der us-amerikanische Gewerkschafter Rob Wayss leitet die Kontrollorganisation des Accord on Fire and Building Safety in Bangladesch.
Foto: Emanuel K. Schürer

Die Frauenrechtlerin

Frauen bietet die Bekleidungsindustrie große Chancen im formellen Sektor mit entsprechender Bezahlung zu arbeiten statt zu Hause, hebt Sadaf Saaz hervor. Die 50-jährige Kleidungsunternehmerin ist bei der großen Frauenrechtsorganisation Naripokkho aktiv. Die Molekularbiologin mit Studium in Cambridge und Lyrikerin leitet mit ihrem Mann eine Fabrik für Oberbekleidung mit um die 1 100 Näherinnen. Rana Plaza habe einen massiven Umbruch in der Branche verursacht. Die Zeit der Sweatshops (Ausbeutungsbetriebe) für den Export sei vorbei. Sie selbst hätten ihre alte Fabrik, die nicht für diesen Zweck gebaut war, geschlossen und eine neue, sichere gebaut, sagt sie. »Wenn es, wie vor einiger Zeit, wieder ein Erdbeben in Dhaka gäbe, wäre der einzige Platz, wo ich sein wollte, eine Bekleidungsfabrik.«

Der Gewerkschafter

Dass sich die Sicherheit der Exportfabriken entscheidend gebessert hat, bestätigt Rob Wayss bei einem Gespräch im Deutschen Klub von Dhaka. Wayss muss es wissen. Der Gewerkschafter aus den USA leitet die Accord-Organisation mit 220 Mitarbeitern, davon 100 Ingenieure. Sie haben die Fabriken auf Standfestigkeit und Feuerschutz überprüft und auch Verbesserungen überwacht. »Ich kann sagen, das ist die sicherste Fertigkleidungsindustrie der sich entwickelnden Welt. Das können die auch zur Werbung nutzen«, sagt Wayss, dessen Vorfahren aus Baden-Baden stammen. Dem Accord zufolge müssen die beteiligten Kleidungsmarken alle Fabriken angeben, wo etwas für sie produziert wird, auch Subunternehmen. Diese Fabriken werden überprüft. Bislang sind das rund 2 000. Die Accord-Organisation darf nach einer bei Gericht erzielten Einigung bis Juni 2020 weiterarbeiten. Danach soll eine neue inländische Organisation diese Aufgabe übernehmen.

»Der Bangladesch-Accord könnte ein Modell für andere Länder werden«, hofft der 56-jährige Wayss. Entsprechende Anfragen etwa aus Vietnam oder Kambodscha habe er aber noch nicht erhalten.

Textilunternehmer (von links): Asif Ibrahim, Miran Ali und Mohammad A. Momen.
Textilunternehmer (von links): Asif Ibrahim, Miran Ali und Mohammad A. Momen. Foto: Emanuel K. Schürer
Textilunternehmer (von links): Asif Ibrahim, Miran Ali und Mohammad A. Momen.
Foto: Emanuel K. Schürer

Die Inspektoren

Aufgerüstet wird derzeit das staatliche Department für die Inspektion von Fabriken und Einrichtungen (Dife). Auch hier kümmert man sich speziell um die Exportfabriken. Es geht um Sicherheit, Bezahlung und soziale Vorschriften. Die Zahl der Inspektoren wurde erheblich aufgestockt. Noch immer fehlen aber viele solcher Kontrolleure, ist mehrfach zu hören. »Wir sollten 69 sein. Auch das würde noch nicht ausreichen. Tatsächlich sind wir aber nur 26«, heißt es in einem Bezirk. Die Inspektoren verdienen zwischen 22 500 und 34 000 Taka (225 bis 340 Euro) im Monat, müssen aber für ihre Fahrten selbst aufkommen.

Mit Unterstützung der ILO wurden die Inspektionen formalisiert und digitalisiert – um Verlässlichkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit herzustellen. »Vor Rana Plaza haben uns Arbeitgeber oft nicht ernst genommen. Das hat sich inzwischen geändert. Der Druck der Verbraucher hat geholfen«, berichtet ein Inspektor. Zudem scheint die junge Generation auch moralisch engagierter als ihre Vorgänger. Auf die Frage nach Korruption werden sie relativ deutlich. »Früher wurden die Inspektoren schlechter bezahlt«, heißt es da etwa. Oder auch: »Es gibt solche und solche.« Einer räumt ein, dass man schon versucht habe, ihm »etwas zu geben«. Er habe es aber nicht angenommen. »Es ist befriedigend, wenn man Missstände abstellen und Arbeitern zu ihrem Recht verhelfen kann«, sagt der Inspektor Amirul Islam im Gespräch mit dem GEA. Es klingt durchaus glaubhaft. (GEA)

BANGLADESCH

Hauptexportgut Kleidung, weit verbreitete Korruption und lähmende Bürokratie

Die Volksrepublik Bangladesch liegt am Golf von Bengalen. Die Gesamtbevölkerung wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) mit gut 164 Millionen beziffert. Mit einer Bevölkerungsdichte von über 1 251 Personen pro Quadratkilometer ist Bangladesch – abgesehen von Stadtstaaten – laut Auswärtigem Amt der am dichtesten besiedelte Staat der Welt. Hauptstadt ist Dhaka, dessen Einwohnerzahl auf 20 Millionen geschätzt wird. Weit über 90 Prozent der Bevölkerung sind Moslems. Landessprache ist Bengalisch, in vielen Schulen wird Englisch unterrichtet. Das Pro-Kopf-Einkommen wird mit 1 600 bis 1 750 US-Dollar pro Jahr beziffert. Obwohl die Armutsquote in den letzten zwei Dekaden dem Auswärtigen Amt zufolge zurückging, leben mindestens 12,1 Prozent der Bevölkerung (circa 20 Millionen) unterhalb der extremen Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag. Unter- sowie Fehlernährung bleiben weit verbreitet. Laut ILO sind 87,4 Prozent der Arbeiter in der informellen Wirtschaft beschäftigt, was geringe Produktivität, geringen Lohn und prekäre Jobs mit sich bringt. Nur ein Drittel der Frauen arbeitet. Von den vier Millionen Arbeitern der Fertigbekleidungsindustrie sind laut ILO schätzungsweise 55 Prozent weiblich. Die Exporterlöse sind im Haushaltsjahr 2017/2018 weiter auf 36,66 Milliarden US-Dollar gestiegen. Bedeutendste Absatzmärkte sind laut Auswärtigem Amt die EU (58 Prozent) und die USA (16 Prozent). Hauptexportgüter sind mit 89 Prozent Bekleidungsartikel. Es folgen Lederwaren, Jutewaren und Fisch. Den vergleichsweise günstigen Bedingungen für Auslandsinvestitionen sowie dem wachsenden Binnenmarkt stünden »eine schwache Verkehrsinfrastruktur, ein hohes Energiedefizit sowie weit verbreitete Korruption und lähmende Bürokratie entgegen«, heißt es. (eks)