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Aktuell Regierung

Die gewonnene Niederlage

Kanzler Olaf Scholz stellt die Vertrauensfrage und verliert sie planmäßig. Der Weg für Neuwahlen ist frei

Nach dem Aus der Ampelkoalition stellt Bundeskanzler Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage.  FOTO: SOEDER/DPA
Nach dem Aus der Ampelkoalition stellt Bundeskanzler Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage. FOTO: SOEDER/DPA
Nach dem Aus der Ampelkoalition stellt Bundeskanzler Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage. FOTO: SOEDER/DPA

BERLIN. Muss man sich Christian Lindner demnächst als Gebrauchtwagenhändler, als Versicherungsvertreter oder gar als Bordellbetreiber vorstellen? In einem Ministerium jedenfalls, findet Olaf Scholz, hat der FDP-Chef nichts mehr verloren. »Politik ist kein Spiel«, ätzt der Kanzler, »in eine Regierung einzutreten – dafür braucht es die nötige sittliche Reife.«

Was er damit konkret meint, sagt Scholz nicht. Darum geht es ihm aber auch nicht. Mit der Vertrauensfrage, die Scholz an diesem Nachmittag im Bundestag stellt, um vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen, ist der Kampf ums Kanzleramt endgültig eröffnet – und Lindner aus seiner Sicht ein dankbares Opfer. Hauptsache, der Treffer ist gesetzt. Das Buhen und die entrüsteten Zwischenrufe aus der Opposition ignoriert Scholz. Schon unmittelbar nach dem Ampel-Aus hatte er Lindner hart und sehr persönlich attackiert. Mehr Respekt zu zeigen, das Motto seines letzten Kanzlerwahlkampfes, gilt offenbar nicht für den Mann, der die Koalition zum Platzen brachte.

Sittliche Reife? Lindner selbst ignoriert den kleinen Eklat später, als wolle er Scholz durch Nichtbeachtung strafen, sondern redet fast ausschließlich von den wirtschaftlichen Problemen des Landes und der fehlenden Kraft der Ampel, daran noch etwas zu ändern. Dafür verteidigt ihn Friedrich Merz mit Verve. Die Attacke des Kanzlers auf den früheren Finanzminister, tobt der CDU-Chef, sei nicht nur respektlos gewesen, sondern eine »blanke Unverschämtheit«. Ganz offensichtlich höre der Respekt bei Scholz dort auf, wo es andere politische Meinungen gebe, zürnt er. Drei Stunden später, nach einer turbulenten schon sehr von der Rhetorik des beginnenden Wahlkampfes geprägten Debatte, ist das Ergebnis gleichwohl das gewünschte. Scholz verliert die Vertrauensfrage wie geplant. Kurz darauf fährt er bereits zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, um bei ihm die Auflösung des Bundestags zu beantragen

»In eine Regierung einzutreten – dafür braucht es die nötige sittliche Reife«

In seiner Rede vor dem Parlament argumentiert der vierte Kanzler der SPD wie Willy Brandt, der im September 1972 als erster Bundeskanzler überhaupt eine Vertrauensfrage stellte. Er tue das, betonte Brandt damals, »damit die Vertrauensfrage erneut an den Wähler gestellt werden kann.« Scholz sagt fast wortgleich: »Die Vertrauensfrage richte ich heute an die Wählerinnen und Wähler.« Die Entscheidung über den künftigen Kurs des Landes sei von so grundlegender Art, dass sie nun der Souverän selbst treffen müsse.

Der Wähler als letzte Instanz und Neuwahlen als letztes Mittel, um den politischen Stillstand zu verhindern: »Ein Kanzler brauche eine stetige und verlässliche Basis für seine Politik«, mahnte auch Gerhard Schröder, als er im Juli 2005 ebenfalls vorgezogene Neuwahlen erzwang. Anders als Scholz heute hatte er mit seiner rot-grünen Koalition allerdings noch eine Mehrheit im Bundestag. Nachdem die SPD jedoch kurz zuvor ihr Stammland Nordrhein-Westfalen an die CDU verloren hatte, stand der Schröder-Koalition eine mächtige Union im Bundesrat gegenüber, die ihm das Weiterregieren zu verunmöglichen drohte. Also suchte Schröder sein Heil in der Flucht und einer vorgezogenen Neuwahl. Wenige Monate später war Angela Merkel Kanzlerin.

Die Vertrauensfrage, die Olaf Scholz an diesem Montag dem Parlament stellt, ist erst die sechste in den gut 75 Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik – das letzte Mittel, wenn man so will. Des historischen Moments jedoch sind sich die wenigsten Redner an diesem Nachmittag bewusst, es wird hier wie dort nicht mit dem Florett gefochten, sondern mit dem Säbel, allen voran SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der den Vorwurf der fehlenden sittlichen Reife an Lindner noch einmal wiederholt und der FDP »Niedertracht« unterstellt, als trügen Sozialdemokraten und Grüne keine Verantwortung für das Scheitern der vermeintlichen Fortschrittskoalition.

Auch Scholz klingt über weite Strecken seiner Rede nicht wie ein Staatsmann, der er kraft Amtes ist, sondern wie ein Wahlkämpfer im Duracell-Modus. Er wirft der Opposition Wirklichkeitsverweigerung vor, unterstellt Union und FDP sie wollten die Renten kürzen, und beklagt den Abbau von Arbeitsplätzen, das Abwandern von Unternehmen aus Deutschland und die Unpünktlichkeit der Bahn, als sei Merz der Kanzler und er der Oppositionsführer. Wo Schröder sich einst mit eher nachdenklichen Worten verabschiedete und bilanzierte, die vergangenen sieben Jahre seien gute Jahre für das Deutschland gewesen, das in dieser Zeit liberaler, toleranter und selbstbewusster geworden sei, verzichtet Scholz auf jedes Pathos. Zum Schluss wendet er sich sogar direkt an die Menschen draußen, im Land, von denen ihn nach jüngsten Umfragen nur noch ein knappes Drittel für kanzlertauglich hält: »Ich vertraue auf Ihre Vernunft und Ihre Urteilskraft.«

Friedrich Merz war nur noch ein einfacher Bundestagsabgeordneter, als Schröder 2005 seine V-Frage stellte, von Angela Merkel aus der ersten Reihe verdrängt und schon auf dem Sprung in die Wirtschaft. Nun, knapp 20 Jahre danach, ist er CDU-Vorsitzender und möglicherweise der nächste Kanzler. Eine Warmlaufphase braucht er an diesem Nachmittag nicht, er ist sofort auf Betriebstemperatur. Die eine Hand lässig in der Hosentasche, weist der braungebrannte Sauerländer den Kanzler erst einmal wegen seiner Angriffe auf Lindner zurecht. Wenig später holt er dann selbst ganz weit aus, um seinem Kontrahenten von der SPD eine verbale Ohrfeige zu verpassen. Es geht um die Europapolitik von Scholz. »Ich erspare Ihnen mal, was die Staats- und Regierungschefs in Ihrer Abwesenheit über Sie sagen«, sagt Merz – um dann genau das Gegenteil zu tun. Der CDU-Politiker hat noch nicht so viel Kontakt zu europäischen Staatenlenkern, er zitiert deshalb, was ihm jemand anders gesagt habe. Dieser Politiker sei während einer Sitzung des Europäischen Rates auf den mit verschränkten Armen dasitzenden Scholz zugegangen: »Olaf, sag doch mal was.« Dessen Antwort: »Nö, Du hast ja auch nichts gesagt.« Ein solches Verhalten, schlussfolgert Merz, sei »peinlich«. Kurz: Es sei »zum Fremdschämen, wie sie sich auf europäischer Ebene benehmen«.

»Zum Fremdschämen, wie sie sich auf europäischer Ebene benehmen«

Scholz hat am Mittwoch Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen. Er wird am EU-Westbalkan-Gipfel in Brüssel teilnehmen und dort auf Vertreter aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und dem Kosovo treffen. Der Westbalkan ist eines der wenigen Themen, bei dem er sich in den vergangenen drei Jahren auf europäischer Ebene von den anderen abheben konnte. Sloweniens Ministerpräsident Robert Golob etwa sprach mit Blick auf etwaige Beitrittsperspektiven von einer »Führungsposition, die er hat innerhalb des Europäisches Rates«. Scholz hat sich während vieler EU-Gipfel sehr dafür eingesetzt, dass der Aufnahmeprozess wieder Fahrt aufnimmt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieser so richtig weit noch nicht gediehen ist.

Bleiben also am Ende nur die Wachteleier? Scholz will, sollte er nach dem 23. Februar erneut als Kanzler einer SPD-geführten Regierung vorstehen, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von sieben auf fünf Prozent absenken. Merz rechnet ihm vor, was das an Ersparnis bringen würde, nämlich: »Sechs Cent auf ein halbes Pfund Butter.« Darüber hinaus würde die Absenkung nicht nur gängige Nahrungsmittel, sondern auch Froschschenkel betreffen, höhnt der CDU-Chef und nennt noch andere Luxusgüter – Wachteleier und frische Trüffel.

Er sagt es nicht direkt, aber er macht deutlich: Die Arbeiterpartei SPD sorgt praktisch durch die Hintertür dafür, dass die Reichen billiger an ihr teures Essen kommen. Wobei das Bild offenbar nicht so ganz stimmig ist, denn auf der Internetplattform Ebay gibt es 360 Wachteleier zum Preis von 111,99 Euro. Das sind rund 31 Cent pro Ei, ein für viele Menschen durchaus noch erschwinglicher Preis, Ratenzahlung wäre möglich. Der Hieb aber sitzt. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich verteidigt sich später mit dem Hinweis, die Menschen in seinem Kölner Wahlkreis wüssten gar nicht, wo es dort Froschschenkel, sehr wohl aber, wo es Butter zu kaufen gebe.

»Herr Bundeskanzler, es sind Zeiten ohne Wende geworden«

So richtig sachlich wird es selten. Merz erinnert an die »Zeitenwende«-Rede von Scholz, lobt sie als »gute Regierungserklärung«. Aber an diesem denkwürdigen Tag im Bundestag ist auch das Wahlkampf – und so kassiert der Herausforderer sein Lob auch sofort wieder ein. Denn: »Herr Bundeskanzler, es sind Zeiten ohne Wende geworden.« So oder so ähnlich klingt Merz häufiger in seiner Replik. »Herr Scholz, Sie haben Ihre Chance gehabt. Sie haben Ihre Chance nicht genutzt«, sagt er. Oder: »Sie, Herr Scholz, haben Vertrauen nicht verdient.« Ganz frei von Situationskomik ist das nicht – schließlich ist es an diesem Nachmittag ja das Ziel des Kanzlers, kein Vertrauen ausgesprochen zu bekommen.

Gegen 16.30 Uhr ist der Plan aufgegangen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) gibt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Scholz bekommt nur von einer Minderheit der 733 Abgeordneten das Vertrauen ausgesprochen. 207 Abgeordnete votieren für Scholz, 394 gegen ihn, 116 enthalten sich. Damit beginnt die Abwicklung der Ampel und der laufenden Wahlperiode nun auch formell. Nur eine Erhöhung des Kindergeldes und eine Entschärfung der Steuerprogression werden die Parteien vor der Bundestagswahl noch gemeinsam beschließen. Der Rest ist grundgesetzlich festgelegte Polit-Routine. Der Bundespräsident hat jetzt 60 Tage Zeit, den Bundestag aufzulösen. Auch der Wahltermin ist schon vorbesprochen – am 23. Februar entscheidet Deutschland, von wem es künftig regiert werden will.

Eines kann Olaf Scholz für sich dabei ausschließen: Vizekanzler unter einem Kanzler Merz, hat er vor Kurzem gesagt, werde er auf keinen Fall. (GEA)