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Das Kreuz mit den Überhangmandaten

REUTLINGEN. Auf den letzten Metern des Bundestagswahlkampfes gibt es zwischen den Parteien eine hektische Auseinandersetzung über die sogenannten Überhangmandate. Auslöser ist eine Ankündigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): Die hatte am vorigen Freitag lapidar erklärt, sie würde im Zweifelsfall auch mit einer reinen Mehrheit der Mandate weiterregieren - selbst wenn Union und FDP am kommenden Sonntag zusammen keine echte Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielen würden. In einem solchen Falle könnten Überhangmandate die Mehrheit im Parlament sichern, ein Überhangmandat sei schließlich »kein Mandat zweiter Klasse«, so die Kanzlerin.

Überhangmandate entstehen in unserem Wahlsystem unter anderem aus dem Zusammenwirken von Erst- und Zweitstimme auf dem Wahlzettel: Wenn eine Partei in einem Bundesland per Erststimme mehr Mandate direkt erobert als ihr nach Zweitstimmen zustehen, dann erhöht sich die reguläre Zahl der Abgeordneten. Der Grund: Alle direkt gewählten Abgeordneten haben natürlich ein Anrecht auf ihren Parlamentssitz - selbst wenn ihre Partei über die Zweitstimmen insgesamt weniger erfolgreich ist. Anders als in den Ländern sieht das Bundes-Wahlrecht keine »Ausgleichsmandate« für andere Parteien vor. Dies würde dafür sorgen, dass das Stärkeverhältnis insgesamt wieder in die Balance kommt.

Begünstigt werden Überhangmandate durch massives Stimmensplitting (z.B. Erststimme für den SPD-Kandidat, Zweitstimme für die Grünen). Profitieren tun fast ausschließlich die großen Parteien: Ohne die 12 Überhangmandate seiner CDU hätte Helmut Kohl 1994 keine Kanzlermehrheit gehabt, auch Gerhard Schröder (SPD) verhalfen 2002 viele direkt gewählte Abgeordnete zu einer ausreichenden Mehrheit im Parlament.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2008 das Wahlrecht im Hinblick auf die Überhangmandate für verfassungswidrig. Die Richter verlangten eine gerechtere Regelung. Dabei ließen sie dem Gesetzgeber viel Zeit - bis Juni 2011. Im Juli 2009 legten die Grünen im Bundestag ein Änderungsgesetz vor: Die Union lehnte ab und die SPD ebenfalls - um die Koalition nicht zu gefährden.

Und so ist unmittelbar vor der Bundestagswahl eine fast groteske Situation eingetreten: Das aktuelle Wahlrecht ist teilweise verfassungswidrig. Politikwissenschaftler sehen eine Gefahr für die »demokratische Legitimierung« einer Regierung, die gegebenenfalls nur über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, nicht aber die Mehrheit der Wählerstimmen erlangte. Rein rechtlich wäre dieses Vorgehen aber trotzdem legal - also rechtmäßig -, denn die Verfassungsrichter haben ein neues Gesetz ja erst nach dem 30. Juni 2011 verlangt.

Falls nach dem kommenden Sonntag eine Bundesregierung auf diese Weise gebildet würde, wäre ihr eine permanente verfassungspolitische Debatte sicher - es müsste dann wohl baldige Neuwahlen geben. (GEA)

www.gea.de/bundestagswahl