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»Bilder, die für immer bleiben«

Es war ein Tag, der die Welt veränderte. Am morgigen Sonntag sind genau zehn Jahre vergangen, seit islamistische Terroristen am Steuer von Passagierflugzeugen Amerika angriffen. Nahezu 3 000 Menschen kamen ums Leben. Die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers lösten weltweites Entsetzen aus. Und bis heute wirken die Ereignisse nach. GEA-Mitarbeiter Marcel Auermann erlebte den 11. September 2001 in New York

9.03 Uhr Ortszeit am 11. September 2001 in Manhattan: Dies ist der Augenblick, in dem die Boeing 767, United Airlines Flug 175,
9.03 Uhr Ortszeit am 11. September 2001 in Manhattan: Dies ist der Augenblick, in dem die Boeing 767, United Airlines Flug 175, in den Südturm des World Trade Centers rast. Erst jetzt wird klar, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Bereits 17 Minuten zuvor, um 8.46 Uhr, war eine Boeing 767 im Nordturm eingeschlagen. Der Südturm, in dem der Flieger die Stockwerke 77 bis 83 zerstört hat, wird um 9.59 Uhr einstürzen, 56 Minuten nach dem Einschlag. Im Nordturm mit der Antennenspitze, wurden die Stockwerke 93 bis 96 getroffen. Er wird 29 Minuten später, um 10.28 Uhr, kollabieren. Foto: AP
9.03 Uhr Ortszeit am 11. September 2001 in Manhattan: Dies ist der Augenblick, in dem die Boeing 767, United Airlines Flug 175, in den Südturm des World Trade Centers rast. Erst jetzt wird klar, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Bereits 17 Minuten zuvor, um 8.46 Uhr, war eine Boeing 767 im Nordturm eingeschlagen. Der Südturm, in dem der Flieger die Stockwerke 77 bis 83 zerstört hat, wird um 9.59 Uhr einstürzen, 56 Minuten nach dem Einschlag. Im Nordturm mit der Antennenspitze, wurden die Stockwerke 93 bis 96 getroffen. Er wird 29 Minuten später, um 10.28 Uhr, kollabieren.
Foto: AP
NEW YORK. Zum ersten Mal Amerika. Vom 8. bis 15. September 2001 nach New York. Die ersten beiden Tage gleichen dem, was man sich unter einem Besuch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten vorstellt: Broadway, Central Park, Museum Of Modern Art. Alles läuft nach Reiseplan. Am 10. September schweift der Blick vom Empire State Building durch die tief hängenden, dunklen Regenwolken an die Küste - und auch hinüber zu den Zwillingstürmen des World Trade Centers. Morgen, sage ich zu meiner Begleitung, morgen schauen wir uns das prächtige Gebäude an und fahren hinauf zur Aussichtsplattform. Die Wettervorhersage kündigt einen herrlich spätsommerlichen, fast schwülen Tag an. Perfekte Aussicht also. Doch dazu soll es nicht mehr kommen.

Als der Kellner das Frühstück an den Tisch bringt, hasten die ersten Hotelgäste zu den Fernsehern. Die Uhr zeigt kurz vor neun Uhr an diesem 11. September. Nachrichtensender unterbrechen das Programm für Breaking News, wie Amerikaner Eilmeldungen nennen. Zu sehen gibt es Bilder, die viele für nicht real halten. Da steckt ein Flugzeug im oberen Drittel des World Trade Centers und Flammen schlagen aus dem Hochhaus.

Das Frühstück rühre ich nicht an, sondern schaue mit sämtlichen Hotelgästen, die sich in der Empfangshalle versammeln, gebannt auf den Bildschirm. Manche weinen, manche halten sich die Hand vor Schreck vor den Mund. Wenige schreien einfach nur.

Es fällt schwer, sich vom Bildschirm loszureißen. Doch ein Journalist will aus erster Hand erfahren, was passiert ist. Also beginnt der Fußmarsch an die Südspitze Manhattans, während andere Passanten vor Schaufenstern stehen, in denen Monitore angebracht sind. Immer wieder die gleichen Bilder: Ein Flugzeug rammt den Nordturm des World Trade Centers. Ich laufe schneller. Dann surrt es über der Stadt und plötzlich ein Knall. Ganz dumpf. Ein Geräusch, das mich noch heute verfolgt. Wann immer ein Tiefflieger über mir seine Kreise zieht, warte ich, dass auch der Knall folgt. Er kommt natürlich nicht. Aber die Bilder vor meinem geistigen Auge, die laufen ab. Es sind genau die, die zu diesem Zeitpunkt die Fernseher in New York zeigen: Der zweite Jet rast in den Südturm.

Viele der Passanten werden hektisch, wissen nicht, was sie tun sollen, sinken in sich zusammen, weinen. Eben noch Stille. Jetzt dröhnen die Feuerwehrautos heulend durch die Häuserschluchten. Von überall her kommen sie und haben nur ein Ziel: das World Trade Center.

Allmählich ist eine Rauchsäule zu beobachten, die am Ende der Straße in die Höhe steigt. Die Luft ist stickiger geworden und besitzt einen modrig-muffigen, später einen stechenden Geruch. Irgendwann gelange ich an eine Absperrung. Bis hierhin und nicht weiter. Die Polizisten sind streng. Doch es ist nahe genug, um alles zu beobachten: die lichterloh brennenden Türme, die Reste der versenkten Flugzeuge, die verzweifelten Menschen im Gebäude, die keine andere Wahl mehr sehen, als aus den zertrümmerten Fenstern zu flüchten. Es ist der Sprung in den sicheren Tod.

Dann diese riesigen Staubwolken, als zuerst der eine, dann der andere Turm zusammensinkt. Der Himmel verdunkelt sich. Die Sonne scheint nur noch dunkelrot durch die dichten Nebelschwaden. Im Nu liegen sämtliche Straßenzüge in Schutt und Asche. Der Brustkorb ist wie zugeschnürt. Das Atmen funktioniert nur noch in kurzen Schüben. Ziellos irre ich mit Tausenden anderen Menschen durch die Stadt. Bei denen, die weinen, ziehen die Tränen dunkle Streifen übers Gesicht. Einige besorgen sich von irgendwoher Atemmasken.

Es ist jetzt die journalistische Arbeit, Menschen nach ihren Eindrücken zu befragen, nach Informationen zu forschen, Stimmungen einzufangen. Aber es fällt schwer. Ich will niemanden belästigen.

Reichen die Bilder nicht? Sagen die nicht alles? Genügen nicht die Help-Help-Help-Schreie? Erklären nicht die Ehefrauen, die hysterisch auf der Suche nach ihren arbeitenden Männern sind, alles? Sie hacken Nummern in ihre Handys, die sich als nutzlos herausstellen. Erst gegen Abend funktionieren die Verbindungen wieder.

Irgendwann auf meinem Weg Richtung World Trade Center warnten mich Passanten noch, es sei grauenvoll, was man zu sehen bekomme, und da standen die Türme noch. Ich würde es nie, nie wieder vergessen, meinten sie. Verkohlte Leichen, abgetrennte Beine und Körper ohne Köpfe liegen auf den Straßen. Zerbeulte Autos, gesprungene Fensterscheiben und Menschen, die in Hauseingängen kauern und warten, bis alles vorbei ist, sind das Harmloseste.

Die Tage danach gestalten sich kaum anders. Staubbedeckte Menschen, die nach ihren Verwandten suchen. Vor Erschöpfung torkelnde Feuerwehrmänner und Polizisten, denen Passanten spontan für ihre Arbeit Beifall klatschen. Der Qualm zieht weiter über Manhattan hinweg, weil sich der Wind dreht. Und Stille. Auf den Musicalbühnen des Broadway - Schweigen. In den Kaufhäusern der Fifth Avenue, wo Kunden sonst Millionen Dollars ausgeben, bleiben die Türen geschlossen. Etwas, das unmöglich scheint, passiert: Aus der Stadt, die niemals schläft, wird eine Stadt, die doch mal innehält.

An Shopping denkt in den Tagen nach dem 11. September niemand. Viel wichtiger ist das Reden. Wildfremde verspüren plötzlich das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Die Unterhaltung gibt ihnen Halt, das Gefühl, nicht allein zu sein. Manche verstören die Ereignisse so sehr, dass sie einem nur ein "God Bless You" ("Gott schütze Dich") zurufen.

Das Gemeinschaftsgefühl, die Begegnungen, die Gespräche, die Ereignisse an sich - das alles schweißt mich so sehr an New York wie an keine andere Stadt. Als ich am 15. September nach Hause komme, warnt mich meine Mutter: "Du gehst mir nie mehr nach Amerika." Doch dieses Versprechen kann ich ihr nicht geben. Seither fliege ich fast jedes Jahr wieder aufs Neue in "meine" Stadt. (GEA)