BERLIN. Stundenlang war sie nahe des Gazastreifens mit ihren beiden Töchtern im Pyjama über Felder gerannt, um den Hamas-Terroristen zu entkommen, sagt Batsheva Yahalomi Cohen. Dabei trug die junge Frau ihre 20 Monate alte Tochter auf dem Arm. Ihre ältere Tochter, 10, rannte neben Cohen. Wenn ihnen die Kraft ausging, legten sie sich aufs Feld – in der Hoffnung, für tot gehalten zu werden, sollten die Terroristen auftauchen. So erzählt es Cohen auf einer Pressekonferenz im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Cohen ist eine von drei Angehörigen, die in die Hauptstadt gereist sind, um die deutsche Politik um Unterstützung zu bitten.
Deutschland hat Israel nach der Zeit des Nationalsozialismus immer unterstützt. Deshalb hoffen die Angehörigen nun auch in Berlin auf Hilfe, wie Gilad Korngold, ein anderer Angehöriger sagt. Sein Sohn, seine Schwiegertochter, sein Enkel Nave, 8, und seine Enkelin Yahel, 3, wurden entführt. Seit mehr als 40 Tagen befinden sich ungefähr 240 Geiseln in der Gewalt der Hamas, die am 7. Oktober Israel angriff. 34 der Geiseln sind Kinder. Zumindest wird angenommen, dass die Kinder entführt wurden. Denn bislang fehlt von ihnen jede Spur. Unter Tränen berichten die Angehörigen, wie ihnen die Hamas ihre Kinder, Enkelkinder und Partner entriss. Immer wieder erscheinen Fotos oder Videos der Vermissten auf Bildschirmen. Bilder aus unbeschwerten Tagen: im Urlaub, mit dem Hund, beim Familienausflug.
Worte voller Verzweiflung
Auch der zwölfjährige Eitan – Cohens Sohn – und sein Vater Ohad sind zu sehen. Batsheva Yahalomi Cohen berichtet, am frühen Morgen des 7. Oktober seien sie und ihre Familie von Schussgeräuschen vor ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz aufgewacht. Männer brüllten auf Arabisch, der Geruch von Schießpulver drang ins Haus. Cohen, ihr Mann und die drei Kinder rannten in den Schutzbunker, der sich im Haus befand.
Doch an diesem Tag ließ sich die Tür des Bunkers nicht mehr von innen verschließen. Also harrten sie so ruhig wie möglich aus. Irgendwann, erzählt Cohen, wurde die Tür des Hauses aufgeschossen, vier Terroristen entdeckten die Familie schließlich im Bunker. Bei dem Versuch, seine Kinder und seine Frau zu schützen, wurde Cohens Mann angeschossen. Unter vorgehaltenen Waffen hätten die Terroristen sie und ihre Kinder aus dem Haus und auf Motorräder gezerrt, sagt Cohen. Panzer der israelischen Verteidigungskräfte überraschten die Motorräder auf der Fahrt Richtung Gaza schließlich. Das Motorrad, auf dem Cohen mit ihren Töchtern saß, kam zum Stehen. Diesen Moment nutzte Batsheva Yahalomi Cohen, packte ihre Töchter und rannte. Die letzte Erinnerung an ihren Sohn Eitan: Wie er mit einem Terroristen auf dem anderen Motorrad Richtung Gaza rast.
Während Cohen mit gepresster Stimme erzählt, hält sie ein Papier in der Hand, auf dem ein Foto ihres Sohnes zu sehen ist. Ihre Hände zittern. Ob ihr Mann und ihr Sohn noch leben, weiß sie nicht. Cohen sagt: »Ich habe viele verzweifelte Momente, aber auch zwei Töchter, die mich jetzt brauchen.« Tagsüber seien die Mädchen abgelenkt, aber nachts schlafe vor allem ihre ältere Tochter nicht mehr viel, wache immer wieder schreiend auf.
Gilad Korngold sagt, er wünschte, er hätte in den Tagen vor dem Angriff der Hamas auf Israel ein Foto mit seinem Sohn Tal gemacht. Denn aktuelle Fotos von ihm habe er nicht. Am Abend vor dem Angriff hatte Tal mit seiner Familie im Haus der Schwiegereltern einen Feiertag gefeiert. Morgens explodierte in der Nähe des Hauses eine Granate und setzte das Haus in Flammen. Da israelische Sicherheitskräfte keine Leichen im Haus fanden, gehen sie davon aus, dass die Familie entführt wurde. Korngold sagt, ein Freund aus dem Kibbuz habe berichtet, er habe gesehen, wie Korngolds Sohn in Handschellen aus dem brennenden Haus in ein Auto gebracht wurde. Die Regierung geht davon aus, dass Hamas-Terroristen die ganze Familie nach Gaza verschleppt haben.
Korngold kämpft immer wieder mit den Tränen und sagt, es sei wichtig, jetzt vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen zu befreien. Klar, natürlich auch die jungen Männer. Er hält einen Moment inne, hört auf zu sprechen und fährt fort: »Aber kein Kind sollte ohne seine Mutter sein.« Unter den 34 mutmaßlichen Geiseln befinden sich 20 Kinder, die zu Waisen gemacht wurden. Die Mehrheit von ihn dürfte nichts davon wissen. Gilad Korngold rät allen im Raum, Fotos mit ihren Kindern und Enkeln zu machen und vor allem: die gemeinsame Zeit zu genießen.
Eine Nachricht, die Hoffnung gibt
Neben Cohen sitzt Avihai Brodutch. Seine Frau Hagar und seine drei Kinder Ofri, 10, Yuval, 8, und Oriya, 4, wurden von Hamas-Terroristen entführt, während Brodutch versuchte, das Kibbuz Kfar Aza zu verteidigen. Es liegt nur wenige Kilometer von Gaza entfernt, berichtet Brodutch von dem Morgen des 7. Oktober. Er wirkt gefasst. Auch dann, als er sagt, er wisse, dass die Hamas seinen besten Freund getötet habe. Eine Journalistin entgegnet, sie wisse nicht, ob sie so viel Kraft hätte wie er. »Ich habe keine Wahl«, antwortet Brodutch.
Ihm ist wichtig, zu betonen, dass auf beiden Seiten Menschen gestorben sind – auf israelischer, aber auch auf palästinensischer. Er spricht von einem friedlichen Zusammenleben in Gaza, von Freundschaften und gegenseitiger Unterstützung.
Er sagt, gegenseitige Schuldzuweisungen in diesem komplizierten Konflikt würden Angehörige und Freunde nicht lebendig machen und die Gefangenen nicht zu ihren Familien zurückbringen. Von Israels Regierung ist er enttäuscht und fordert: Die israelische Politik solle sich an erster Stelle auf die Befreiung der Geiseln fokussieren – nicht auf die Bekämpfung der Hamas. »Wir brauchen Hilfe von jedem, der dazu in der Lage ist. Deshalb sind wir hier.«
Brodutch ist froh, dass er sich in seinem zerstörten Haus nicht allein an den Frühstückstisch setzen muss. Er ist bei Freunden untergekommen, tauscht sich mit ihnen aus, bespricht sich über das weitere Vorgehen. Er sagt, die israelische Regierung kontaktiere ihn regelmäßig. Die Nachricht, dass man seine Familie gesehen habe, gibt ihm Hoffnung. Mehr weiß er aber nicht. Was er jedoch mit Gewissheit weiß: Sobald seine Familie wieder vereint ist, wird er ein riesiges Fest mit Freunden und deren Familien organisieren. Musik, viel gutes Essen, lange Gespräche. Es ist nur die Hoffnung, die ihm aktuell bleibt. (GEA)