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Bürokratie: Das prangern Reutlinger Praktiker an

Umfrage bei der IHK und Handwerkskammer Reutlingen zu unnötigen Vorschriften und deren Kosten.

Erschlagen von Bürokratie: Unternehmer und Handwerker leiden. Foto: Ulia Koltyrina/Adobe Stock
Erschlagen von Bürokratie: Unternehmer und Handwerker leiden.
Foto: Ulia Koltyrina/Adobe Stock

REUTLINGEN. Der Abbau der Bürokratie steht auf der Forderungsliste an die Bundes- und Landesregierung ganz oben und kommt dennoch nie richtig voran. In einer Umfrage nennen IHK, Handwerkskammer und Verbände zwei Regelungen, die sie für verzichtbar halten. Immer mehr und immer kompliziertere Gesetze kommen uns teuer zu stehen. Das zeigen die Einschätzungen der regionalen Wirtschaftsvertreter sowie eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Welche Kritikpunkte nennt die IHK?

Die IHK Reutlingen nennt auf Anfrage beispielhaft für viele andere zwei plastische Beispiele für überbordende Bürokratie: So müssen Firmen seit 2006 Sozialversicherungsbeiträge zweimal erfassen. Einmal vorab. Da wird geschätzt, wie viele Beschäftigte sie haben und was die wohl mit Überstunden und Zuschlägen verdienen werden. Und wenn die realen Daten dann feststehen, muss alles noch einmal übermittelt werden. Ein großes Ärgernis für die Unternehmen.

Doch in der Gastronomie wird es vollends absurd. So müssen Gastro-Unternehmer wegen Hygienevorschriften die Temperaturen von Kühlschränken täglich per Hand in ein Formular eintragen und ein Jahr aufbewahren. Und das selbst dann, wenn sie über ein automatisches und digitales Mess-System verfügen.

Laut einer DIHK-Studie kostet die Bürokratie ein typisches, familiengeführtes Unternehmen im Gastgewerbe jedes Jahr 2,5 Prozent des Umsatzes. Die statistischen Meldepflichten belasten die Unternehmen darüber hinaus noch einmal mit rund 350 Millionen Euro.

Wo bekommen die Handwerker in Reutlingen die Bürokratie zu spüren?

Harald Herrmann, Präsident der Handwerkskammer Reutlingen, hat gutes Zahlenmaterial über die Belastung durch Bürokratie. Die Handwerkskammer Reutlingen hat im Sommer 2023 dazu eine Umfrage gemacht. Ergebnis: 86 Prozent der Betriebe gaben an, dass ihr Zeit- und Personalaufwand für Meldungen, Nachweise und Dokumentationen in den vergangenen fünf Jahren gestiegen sei. Drei Viertel der Betriebe nannten eine Flut an neuen rechtlichen Regelungen, die laufend Anpassungen nach sich ziehe. Die Hälfte verwiesen auf eine stetige Zunahme an Nachweis-, Dokumentations- und Meldepflichten. Für viele kleine und mittlere Unternehmen scheint die Belastungsgrenze mittlerweile erreicht: 60 Prozent der Befragten sehen die Selbstständigkeit durch die schiere Menge an rechtlichen Vorgaben und Verfahren als zunehmend unattraktiv, heißt es in der Umfrage.

Handwerkskammerpräsident Herrmann räumt ein, dass das Problem auch von der Politik gesehen werde. Es gebe einen Normenkontrollrat auf Landesebene, der sich mit diesen Fragen beschäftige. Die Regierungskoalition habe sich im Koalitionsvertrag Einsparungen von bis zu 500 Millionen Euro vorgenommen. »Doch die Umsetzung bleibt allerdings weit hinter diesem Ziel zurück«, kritisiert Herrmann.

Tatsächlich habe die bürokratische Belastung zugenommen. Und das gehe zulasten der eigentlichen Arbeit in den Betrieben. »Aufträge werden später bearbeitet, Kunden müssen länger warten, die Kosten steigen«, beschreibt der Mann aus der Praxis die Folgen.

Zudem haben die Handwerker ein spezifisches Problem: Die durchschnittliche Betriebsgröße im Handwerk liegt bei sechs Personen. Es handelt sich um Kleinbetriebe, in denen die Chefin oder der Chef überwiegend operativ tätig sind. Was in größeren Unternehmen bewältigt werden kann, stellt diese Betriebe vor große Probleme. Die Handwerkskammer hat deshalb klare Forderungen: »Wir wünschen uns eine wirksame Beschränkung und sehen drei zentrale Ansatzpunkte: die schiere Menge an Dokumentations-, Melde- und Nachweispflichten muss verringert werden. Zum anderen müssen Regelungen, Formulare und Verfahren verschlankt und nachvollziehbarer werden. Außerdem bietet die Digitalisierung von Verwaltungsabläufen viel Potenzial, um die Kommunikation zwischen Behörden, Sozialversicherungen und Betrieben zu vereinfachen.«

»Aufträge werden später bearbeitet, Kunden müssen länger warten, die Kosten steigen«

Dass aber die Digitalisierung kein Allheilmittel ist und es eben auch auf die gute Umsetzung ankomme, zeigt die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. »Wenn Betriebe jeden Nachweis bei der jeweiligen Krankenkasse einzeln abrufen müssen, führt diese Form der Digitalisierung eben nicht zu einer Entlastung, sondern zu mehr Aufwand«, kritisiert der Präsident.

Desirée Grießhaber-Vetter ist Metzgermeisterin und Betriebswirtin. Die junge Frau führt in Mössingen einen Traditionsbetrieb. Als Inhaberin der Bio-Metzgerei Grießhaber weiß sie genau, warum sich so viele Handwerksbetriebe über zu viel Bürokratie ärgern. »Vor 20 Jahren hatten meine Eltern mehrere Filialen, circa 40 Mitarbeiter und einen Angestellten als geringfügig Beschäftigten für das Büro. Dieser kam ein bis zwei Mal vormittags in der Woche. Heute verbringe ich, für einen Betrieb mit 20 Mitarbeitern, unter der Woche mindestens drei ganze Arbeitstage im Büro und sitze zudem am Wochenende und abends am Schreibtisch«, beschreibt die Geschäftsfrau die Misere. Was früher die Frau vom Handwerker mal so nebenher machen konnte, erfordere heute eine Vollzeitkraft. Hinzu komme, dass es wegen des Fachkräftemangels immer schwieriger werde, dafür jemand zu finden.

Desirée Grießhaber-Vetter ist Metzgermeisterin, Betriebswirtin und Inhaberin der Bio-Metzgerei Grießhaber in Mössingen.  FOTO: P
Desirée Grießhaber-Vetter ist Metzgermeisterin, Betriebswirtin und Inhaberin der Bio-Metzgerei Grießhaber in Mössingen. FOTO: PRIVAT
Desirée Grießhaber-Vetter ist Metzgermeisterin, Betriebswirtin und Inhaberin der Bio-Metzgerei Grießhaber in Mössingen. FOTO: PRIVAT

Als einen Hauptkritikpunkt nennt auch Grießhaber-Vetter die Erfüllung der Dokumentationspflichten und ständig neue bürokratische Anforderungen. Das führe zu einem Kreislauf aus Investitionen, Fort- und Weiterbildungen und erhöhe die Einarbeitungszeit für neue Mitarbeiter oder für einen selbst. Viele Handwerksbetriebe könnten das zeitlich, personell und finanziell nicht mehr tragen, warnt die Metzgermeisterin. Hierfür hat sie ein Beispiel aus ihrem eigenen Betrieb parat: »Ich bin verpflichtet, alle Kassen-Transaktionen in ihrer Metzgerei lückenlos zu erfassen, die digitalen Daten vor Manipulation zu schützen und zu archivieren.« Das werde von den Finanzämtern überwacht, um Umsatzsteuerbetrug vorzubeugen. Für die Bio-Metzgerei in Mössingen bedeutete das eine Investitionssumme von über 50.000 Euro. Denn mittlerweile zahle man allein für eine Lizenz für ein Warenwirtschaftssystem für Metzger genau so viel wie ein Betrieb mit 10 Filialen.

Die Umsetzung dieser Gesetzesvorgabe musste bis zu einem Stichtag erfolgen. »Es folgten intensive Einarbeitungen für mich und meine Mitarbeiter, damit die neuen Kassensysteme, Waagen etc. verstanden und am bestehenden Warenwirtschaftssystem angeschlossen werden können«, beschreibt sie den Aufwand, der aber in einer großen Enttäuschung mündete. Denn die staatliche Kontrollbehörde war am vorgegebenen Stichtag einfach nicht in der Lage, die Daten abzurufen oder auszuwerten.

Welche Auswirkung hat die Bürokratie auf die öffentliche Verwaltung?

Nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Verwaltung werden immer mehr Gesetze und staatliche Auflagen zum Problem. Nach einer neuen Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ist der öffentliche Dienst zwischen 2012 und 2022 um 14 Prozent oder rund 584.000 Menschen auf knapp 4,83 Millionen Beschäftigte gewachsen. Eine gewaltige Zahl und damit erhebliche Kosten. Denn deren Gehälter müssen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Doch laut dem Deutschen Beamtenbund (dbb) besteht weiterhin eine Personallücke von 551.000 Beschäftigten. Der Grund für den höheren Personalbedarf liegt in der überbordenden Bürokratie: »Die Zahl der Gesetze steigt, die Vorschriften werden detaillierter, komplizierter und aufwendiger«, sagt der Volkswirt Björn Kauder auf GEA-Anfrage. Er ist einer der beiden Leiter der IW-Studie zur Personalentwicklung im öffentlichen Dienst. Das binde immer mehr Mitarbeiter, die an anderen Stellen fehlten. »Die Politik muss zur Kenntnis nehmen, dass Reformen für die Wirtschaft und auch die eigene Verwaltung umsetzbar sein müssen. Das wird bisher nicht berücksichtigt.« Statt Vorhaben weniger kompliziert zu gestalten, damit das Personal damit zurechtkomme, werde einfach etwas beschlossen – ohne genug Gedanken an die Umsetzbarkeit.

Welche konkreten Beispiele nennt das Wirtschaftsinstitut?

Ein Negativ-Beispiel ist für Kauder die Grundsteuerreform: »Die Finanzämter sind überfordert und mit kaum mehr etwas anderem beschäftigt.« Um den Aufgabenberg abzuarbeiten, werden sogar Betriebsprüfer eingesetzt. »Das kostet den Staat viel Geld. Denn jeder Betriebsprüfer bringt im Schnitt rund eine Million Euro Steuereinnahmen pro Jahr ein.« Auch die Ausweitung der Grundrente binde durch die Bedürftigkeitsprüfung viel Personal. »Bei diesen Reformen fallen Bürokratiekosten im deutlich zweistelligen Prozentbetrag an, die nie bei den Leistungsempfängern ankommen.« (GEA)