Der Angriff syrischer Islamisten auf die Millionenstadt Aleppo hat das Assad-Regime in Damaskus sowie seine Helfer Russland und Iran vollkommen überrascht. Anders lässt sich der schnelle Vormarsch der offensichtlich bestens vorbereiteten Dschihadisten des islamistischen Bündnisses Haiat Tahrir al-Scham (HTS) kaum erklären. Inzwischen soll sich die HTS bereits auf dem Vormarsch Richtung Damaskus befinden. Die Schnelligkeit dieses Vordringens erinnert an den Islamischen Staat vor rund zehn Jahren. Mit der IS-Terrororganisation hat das Bündnis allerdings nichts mehr zu tun. Wohl aber soll es Kontakte zur Türkei geben.
Aleppo liegt in dem vom Assad-Regime kontrollierten Territorium, eingeklemmt zwischen dem von den HTS-Islamisten gehaltenen Gebiet um Idlib und dem von der Türkei und ihren islamistischen Helfern eroberten Norden von Syrien. Die Dschihadisten konnten den Angriff also in aller Ruhe und unentdeckt vorbereiten und losschlagen.
Für Moskau stellt sich die Frage, wie intensiv es Baschar al-Assad aus der Luft unterstützen wird und ob das überhaupt ausreicht. Bodentruppen wird Moskau kaum entsenden und einsetzen wollen, weil sie in der Ukraine gebraucht werden. Auch Teheran findet sich angesichts der Lage im Libanon und im Gazastreifen kaum dazu imstande, dem Regime in Damaskus wirksam beizustehen.
Die syrische Armee hatte schon in der Vergangenheit alleine gegen die fanatischen Islamisten auf verlorenem Posten gestanden. Der Verlust der syrischen Metropole wäre mehr als nur ein herber Verlust. Auf große Unterstützung von Syrern in der Stadt darf Assad ohnehin nicht hoffen. Er hatte Aleppo 2016 mit brutalsten Methoden und russischen Bombardements zurückerobert – ohne jede Rücksicht auf seine eigene Bevölkerung.
Die Türkei mischt im Nahen Osten kräftig mit. Präsident Erdogan sieht sein Land als Regional- und Mittelmacht. Er war daran beteiligt, als 2020 ein Waffenstillstand für Syrien ausgehandelt worden war. Dass der Bürgerkrieg nun wieder aufflammt, könnte im Sinne von Erdogan sein, der im syrischen Norden einen etwa 30 Kilometer tiefen Streifen besetzt hatte, um die Kurden dort unter Kontrolle zu halten – und weil er schon öfters Anspruch auf dieses und weitere Gebiete erhoben hatte. Ankara dürfte von dem bestehenden Angriff der Dschihadisten auf Aleppo gewusst haben, und möglicherweise beteiligen sich islamistische Gruppierungen aus dem türkisch besetzten Bereich an dem entschlossenen Vorstoß.
Wenn also Assad, Moskau und Teheran in Bedrängnis geraten, wird sich Ankara in einer bevorzugten Position befinden. Erdogan kocht in der Region sein eigenes Süppchen, auch wenn es manchmal so aussieht, als würde er vielleicht mit Moskau paktieren. Für die Menschen dort ist das Wiederaufflammen des Krieges – noch dazu in der kalten Jahreszeit – aber in jeder Hinsicht eine Katastrophe.