BERLIN. Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag ist noch nicht trocken, als Saskia Esken schon den unvermeidlichen Herman Hesse bemüht. »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, zitiert die SPD-Vorsitzende den vielleicht größten Sohn ihres Wahlkreises im baden-württembergischen Calw zum Start des Dreier-Bündnisses. Christian Lindner ahnt da schon, dass die neue Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen einen beschwerlichen Weg vor sich hat. »Die Aufgaben und Vorhaben sind groß«, warnt der FDP-Chef. »Deshalb werden die Ampelparteien Unterstützung von mehr Menschen benötigen als uns gewählt haben.«
Drei Jahre später steht die Koalition vor den Trümmern ihrer Arbeit. Die breite Unterstützung, auf die Lindner hoffte, ist ausgeblieben und die Ampel abgeschaltet. Von den 52 Prozent der Deutschen, die eine der drei Parteien bei der Bundestagswahl gewählt haben, würden heute nur noch 32 Prozent für SPD, Grüne oder FDP stimmen. Ihr Motto »Mehr Fortschritt wagen«, angelehnt an Willy Brandts berühmtes Versprechen, mehr Demokratie zu wagen, hält nicht einmal eine Legislaturperiode lang. Angetreten, besser zu regieren als die Großen Koalitionen und sich auch in Ton und Stil von früheren Regierungen zu unterscheiden, geht es der Ampel am Ende nicht anders als anderen Regierungsbündnissen: Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist aufgebraucht, das Trennende tritt stärker zutage und der Ton ist nicht mehr allzu kollegial. Im Gegenteil: Man höre nur Olaf Scholz und Christian Lindner am Abend des Scheiterns.
Der Streit um Robert Habecks Heizungsgesetz, das vom Verfassungsgericht sogar vorübergehend gestoppt wird, ist im vergangenen Jahr der vorläufige Höhepunkt der wechselseitigen Entfremdung, eine Zäsur für die Koalition und für Hunderttausende von Hausbesitzern auch eine Kampfansage: zu teuer, zu dirigistisch, einseitig die Wärmepumpe bevorzugend. Spät räumt der grüne Wirtschaftsminister ein: »Ich bin zu weit gegangen.« Gleichzeitig aber sagt er: »Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja ehrlicherweise auch ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen.« Der Vorwurf, er behandle Bürger wie Versuchskaninchen, begleitet ihn bis heute.
Die Ampel – ein Universum, das um sich selbst kreist, weit weg von den Sorgen der Bürger? Gestartet im Corona-Winter 2021 und kalt erwischt von Russlands Angriff auf die Ukraine nur zwei Monate nach der Vereidigung des Kabinetts blieb der neuen Bundesregierung keine Zeit sich warmzulaufen oder gar den Koalitionsvertrag abzuarbeiten. Im Gegenteil: Improvisieren wird zu einer Art Staatskunst. Irrläufer und Irrtümer mit eingeschlossen. Sind die Koalitionäre sich noch einig, dass es zu der vom Bundeskanzler im Bundestag ausgerufenen Zeitenwende und den 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr keine Alternative gibt, so streiten sie sich anschließend umso heftiger um alles, was sich daraus ableitet.
Die Laufzeit der letzten Atomkraftwerke verlängern oder nicht? Die Schuldenbremse ein weiteres Jahr außer Kraft setzen oder nicht? Waffen an die Ukraine liefern oder nicht – und, wenn ja, welche? Dazu Inflationsraten von teilweise mehr als zehn Prozent, der anhaltend hohe Migrationsdruck und der Streit um das Bürgergeld, das die FDP als Ersatz für Hartz IV zunächst mitträgt, um es später umso schärfer zu kritisieren: Koalitionen sind schon an kleineren Konflikten zerbrochen. (GEA)