REUTLINGEN. An einem Dienstag im Oktober herrscht Zwietracht in Joachim Gaucks Körper. AfD-Mann Michael Kaufmann ist bei der Wahl zum Bundestags-Vizepräsidenten gescheitert. Laut Geschäftsordnung steht jeder Fraktion ein Sitz im Präsidium zu, aber das Plenum muss die Stellvertreter wählen. Für den AfD-Kandidaten stimmten lange nicht genug. »Mein Bauch findet das super«, sagt Gauck. »Aber mein Kopf sagt: Haben die nicht dieselben Rechte, weil sie auf derselben Rechtsgrundlage in dieses hohe Haus gewählt wurden?«
Gauck, 81, ist parteiloser Bundespräsident a. D. und tut inzwischen, was Altpolitiker a. D. gerne tun: Er gibt den Mahner. Im Gegensatz zu Helmut Schmidt beispielsweise hat er es aber nie zum Lieblingskorrektiv der Intellektuellen geschafft. Zu oft vertritt er unpopuläre Positionen. Wie jene, dass er die Verbannung der Rechtsaußen-Partei von Posten als politische Lösung »nicht überzeugend« findet. Gauck sähe lieber, dass die anderen Abgeordneten sich den AfD-Vertretern argumentativ stellten.
Das Stigma des AfD-Sympathisanten folgt auf solche Forderungen freilich prompt. »Völlig gaga«, findet das Gauck. Er möge die Partei nicht. Er könne es nicht ab, dass sie Leute, die den Nationalsozialismus verniedlichten, nicht ausschließe. Mitunter sei es schwer erträglich, was in Bundes- und Länderparlamenten von AfD-Seite komme. »Aber solange diese Partei das Grundgesetz nicht ablehnt, sich grundgesetzkonform verhält und nicht verboten ist, muss ich sie als Mitspieler in einer offenen, liberalen Gesellschaft ertragen.«
»Du darfst auch zu denen gehören, die wirr im Kopf sind. Es ist nicht schön, aber du wirst deswegen nicht eingesperrt«
»Kämpferische Toleranz« nennt Gauck sein Programm. 2019 hat er darüber ein Buch geschrieben. »Toleranz: einfach schwer« heißt es. Zwei Jahre später ist die Meinungsschlacht um Cancel Culture und Wokeness der Gesellschaft zum Dauerthema geworden, und Gauck hält seine Thesen für aktueller denn je. Auch in Reutlingen stellt er sie vor. Am Freitag war er Gast im Talk-Format »Schoog im Dialog« der Kreissparkasse. Ein richtiger Dialog wird es nicht, ausholen kann der frühere Pastor gut. Seine Forderung: mehr andere Meinungen aushalten. Damit zielt er nicht nur auf einige Menschen in ostdeutschen AfD-Hochburgen wie Chemnitz – die sich seiner Einschätzung nach nicht vorstellen könnten, wie in seiner Wahlheimat Köln 150 Nationen miteinander lebten und der kölsche Karneval dennoch nicht ausgestorben sei.
Toleranzdefizite wirft Gauck vor allem auch dem linksliberalen Milieu zu. Ihm zufolge handeln dort viele nach dem Credo »Tolerieren können wir nur, was fortschrittlichen Zwecken dient«, ein Glaubenssatz des emigrierten Philosophen Herbert Marcuse. Noch so ein Körperkonflikt für Gauck: »Vom Gefühl her stimme ich dem zu, vom politischen Denken nicht.« So eine Haltung lasse zu früh intolerant werden.
Gauck selbst hatte noch im Mai größere Toleranz für Querdenker und Impfgegner gefordert und verlangt, nicht alle mit der Corona-Politik Unzufriedenen auszugrenzen; im September sprach er im Zusammenhang mit Menschen, die Impfen für schädlich halten, von »Bekloppten« an. Ein Widerspruch? Bei Schoog sagt Gauck, tolerieren und verteidigen gehöre elementar zusammen. »Wir leben in einer liberalen Demokratie. Da darfst du auch zu denen gehören, die wirr im Kopf sind. Es ist nicht schön, aber du wirst deswegen nicht eingesperrt.« Das Ende aller Toleranz ist für ihn erst erreicht, wenn die Rechtsordnung überschritten wird.
Auch Gauck selbst hat sich im Tolerant-Sein geübt. Bodo Ramelow war so ein Fall. Als der Linken-Politiker Thüringer Ministerpräsident wurde, haderte Gauck, gebürtiger Rostocker. Für ihn als Ostmenschen sei es nicht einfach gewesen, einen Vertreter dieser Partei in dieser Position zu sehen. Aber nachdem er feststellte, dass Ramelow keine Gefahr für die Demokratie bedeute, habe er seinen Blick auf ihn ändern müssen.
»In der Breite der Bevölkerung definieren wir uns oft über die Summe der Mängel, die wir aufzählen können«
Seine Herkunft aus der DDR prägt Gaucks ganze Haltung. Sein Vater wurde von einem sowjetischen Militärtribunal zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschafft, sein Traumstudium Germanistik durfte er nicht antreten, weil er nicht FDJ-Mitglied war. Keine freie Presse, keine freien Wahlen. In der Bundesrepublik 2021 geht es ihm daher viel zu sauertöpfisch zu. Die habe eine Rechtsordnung, die zwar nicht perfekt, aber sehr, sehr gut sei. Nie zuvor habe es so viel Freiheit im Meinungsaustausch und für die Forschung, so viele unterschiedliche Medien, so viel Wohlstand und sozialen Ausgleich gegeben.
Gauck will mehr Glücksgefühle – und beklagt eine Klagekonjunktur: »Es stört mich, dass wir uns in der Breite der Bevölkerung oft über die Summe der Mängel definieren, die wir aufzählen können.« Vor allem stört ihn, dass Verdruss seiner Meinung nach als Mitgliedsausweis des Bildungsbürgertums gilt: Wer in bestimmten intellektuellen Milieus mit strahlender Freude über sein Leben in Freiheit in diesem schönen Land aufschlage, werde für grenzdebil gehalten, sagt Gauck. (GEA)
ZUR PERSON
Joachim Gauck kam 1940 als Seemannssohn in Rostock zur Welt. Er ist evangelischer Theologe, war Pastor in Mecklenburg und organisierte den Widerstand gegen die SED-Diktatur mit. Nach dem Mauerfall leitete er die Kommission zur Aufklärung der Stasi-Verbrechen des Bundes. Von 2012 bis 2017 war er parteiloser Bundespräsident. (GEA)