BERLIN. Am Tag danach sieht sich der Bundespräsident zu einem Zeichen genötigt. In seinem Schloss im Berliner Tiergarten spricht Frank-Walter Steinmeier dem Land in seinem tiefen Bass eine Beruhigungsformel zu, gleich der Vater seinem verängstigten Kinde. »Das Ende der Koalition ist nicht das Ende der Welt«, sagt er und ergänzt: »Unsere Demokratie ist stark«. Ob das die Wahrheit ist, oder nur eine Behauptung, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
Der Tag davor hat das politische Gefüge erschüttert, das die Deutschen nach 1945 so stabil errichtet hatten. Am Morgen eroberte Donald Trump in unerwarteter Stärke das Weiße Haus zurück. Die Demokratie als solche steht infrage und die Macht des Westens als dominierende Allianz der Erde mithin. Zwölf Stunden später hat Deutschland keine Regierung mehr, die Ampel-Koalition ist zerbrochen. Seit diesem Zeitpunkt jagt ein Politikerstatement das nächste, sprechen angespannte Minister und Parteichefs mit tiefen Augenrändern schwerwiegende Sätze in Fernsehkameras. Es geschehen für die politische Kultur dieses Landes völlig ungewöhnliche Dinge, die in normalen Zeiten eine große Sache wären, aber im Strudel der Ereignisse zu Randnotizen verkommen.
Tiefschlag für Lindner
Nur anderthalb Stunden vor den beruhigenden Worten des Staatsoberhauptes hat Verkehrsminister Volker Wissing zu einer Erklärung geladen. Die Fernsehsender haben Mühe, ihre Kamerateams rasch von einem Ort zum andere zu verlegen, so viel haben sie zu drehen. Während um ihn herum viele zerknitterte Gesichter zu sehen sind, wirkt Wissing ausgeruht, fast ein wenig fröhlich. Perfekt in Schale, wie man es von ihm gewohnt ist, gibt er seinen Austritt aus der FDP bekannt. Das an sich ist schon ein Schlag für seinen Parteivorsitzenden Christian Lindner. Aber mehr noch: Wissing will als Minister weitermachen. Unter Bundeskanzler Olaf Scholz, der Lindner mit einer Schimpftirade als Finanzminister entlassen hatte. Mehr Demütigung geht kaum für den FDP-Vorsitzenden.
Die Personalie Wissing hatte als Gerücht am Vorabend schon die Runde gemacht, wurde vom FDP-Fraktionsvorsitzenden Christian Dürr aber zurückgewiesen. Im Hans-Dietrich-Genscher-Haus wusste da offenbar noch niemand von Wissings Vorstoß. Der hatte sich bereits Anfang des Monats in einem Gastbeitrag für die FAZ für einen Verbleib der Liberalen in der Ampel ausgesprochen. Der Minister wurde dafür von vielen in seiner Partei heftig kritisiert, seit 26 Jahren war er Mitglied, Lindner muss es als Verrat empfunden haben. Wusste der Kanzler Bescheid? War der Vorgang gar zwischen ihm und Wissing genau so abgesprochen? Ausgeschlossen ist das nicht. Der Coup des Verkehrsministers ist ein weiteres Indiz dafür, dass der laute Berliner Knall nicht unvorhergesehen aus dem Nichts kam, sondern eine Vorgeschichte hatte.
Ende Oktober ist Kanzler Scholz in Indien. Die deutsch-indischen Regierungskonsultationen stehen an, es wird viel gesprochen. Dort schon macht ein Szenario die Runde: Scholz schmeißt Lindner aus der Koalition, wenn der seine Politik nicht mitträgt, und macht mit den Grünen in einer Minderheitsregierung weiter. Es ist in etwa der Ablauf, wie er sich eine gute Woche später tatsächlich ereignet.
Was diese außerordentliche Begebenheit dann tatsächlich noch dramatischer macht, ist die Art und Weise. Scholz tritt nach, er holzt gegen Lindner. Er nennt den Mann, mit dem er fast drei Jahre zusammengearbeitet hat, kleinkariert, bezeichnet ihn als verantwortungslos und von Egoismus getrieben. All diese Vorwürfe liest Scholz ab, es ist unzweifelhaft eine vorbereitete Rede, die er da am Mittwochabend im Kanzleramt hält. Die Frage ist bloß, von wie langer Hand sie vorbereitet wurde.
In den Tagen vor dem Zerwürfnis hat sich zwischen Scholz und Lindner ein Zweikampf aufgebaut. Seit Sonntag hockten die beiden stundenlang gegenüber, um Auswege aus der Blockade zu suchen. »Die Stimmung wurde von Mal zu Mal schlechter«, erzählt eine ranghohe Liberale über die Runden im Kanzleramt. Ein Kanzler-Getreuer schildert es ähnlich, spricht von einer schrittweisen Erosion des zu Beginn gar nicht mal so schlechten Verhältnisses der beiden. Bei Scholz verfestigt sich der Eindruck, dass Lindner raus will aus der Koalition. Dessen 18-seitiges Wirtschaftspapier enthält viele Giftpillen, die für den Kanzler und seine Partei nicht zu schlucken sind.
Für einen Moment keimt noch einmal Hoffnung auf. Sie rührt aus Trumps Wahlsieg. Wie kann Deutschland wackeln, während die Führungsmacht des Westens von einem politischen Beben durchgerüttelt wird? Doch Scholz und Lindner haben sich zu sehr verhakt. Auch der hinzugezogene Robert Habeck von den Grünen kann nicht vermitteln.
Ultimatum des Kanzlers
Nach 18 Uhr am Mittwoch will der Kanzler die Entscheidung. Er hat Lindner ein eigenes wirtschaftspolitisches Papier auf den Tisch gelegt. Es geht um die Senkung der Strompreise für die Unternehmen und Hilfen an die Autoindustrie. Die Unterstützung der Wirtschaft hätte Lindner vielleicht mittragen können, nicht aber einen anderen Punkt. Scholz besteht darauf, die Schuldenbremse auszusetzen und damit weiteres Geld für die Ukraine freizumachen. Es geht um 12,5 Milliarden Euro, für die der Kanzler einen sogenannten Überschreitensbeschluss fassen will. In Notlagen ist diese Ausnahme von der Schuldenbremse eine Möglichkeit. Drei Milliarden sollen aus dem regulären Haushalt oben draufkommen. Doch Lindner will nicht.
Der Liberale erwidert, dass Kiew von Deutschland an erster Stelle die hochpräzisen Taurus-Raketen brauche, die der Kanzler aber nicht liefern will. Der Noch-Finanzminister bietet dem Regierungschef an, die Ampel nicht sofort platzen zu lassen, damit noch einige wichtige Gesetze des Bündnisses durch das Parlament können. Scholz bleibt hart: entweder Lindner akzeptiert seinen Vorschlag, oder er kann gehen.
Die FDP-Abordnung zieht sich zur Beratung in einen separaten Raum zurück, die Küche im Kanzleramt hat Rinderschulter serviert. Gegen halb neun Uhr am Abend lässt Lindner verkünden, er habe dem Kanzler Neuwahlen vorgeschlagen. Das Problem. Er sagt es Scholz nicht direkt, sondern der Bild-Zeitung. Für die SPD ist das ein ungeheuerlicher Vertrauensbruch, der sich nicht mehr kitten lässt, zumal beide bei der Ukraine-Hilfe unversöhnlich bleiben. »Und damit war für den Bundeskanzler die Notwendigkeit gegeben, zu sagen, gut: Dann müssen wir es ohne Sie machen«, beschreibt SPD-Co-Chefin Saskia Esken den Augenblick der Wahrheit. »Und dann ist Lindner gegangen.« Finis Ampel.
Am Tag danach kommt dafür Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union trifft sich zum Gespräch mit Scholz im Kanzleramt. Er will hier so schnell wie möglich einziehen, gerne schon im Januar. Doch erst einmal muss er die Bundestagswahl gewinnen, und wenn es nach dem Amtsinhaber geht, wird die wohl erste Ende März abgehalten. Lange vier Monate sind das noch, in denen die Demokratie zeigen muss, wie stark sie wirklich ist. (GEA)