Logo
Aktuell Antisemitismus

Ahmad Mansour über die Auswirkungen des 7. Oktober 2023 auf Europa und die Welt

Extremismus-Experte Ahmad Mansour ordnet aktuelle extremistische Tendenzen in Deutschland ein.

Ahmad Mansour spricht über die Auswirkungen des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 in einer Reutlinger Kirche.
Ahmad Mansour spricht über die Auswirkungen des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 in einer Reutlinger Kirche. Foto: Claudia Reicherter
Ahmad Mansour spricht über die Auswirkungen des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 in einer Reutlinger Kirche.
Foto: Claudia Reicherter

REUTLINGEN. Die Parkplätze rund um die kleine hellgelbe Kirche in Betzingen sind belegt, Polizeipräsenz am frühen Abend. Was ist da los? Christel und Klaus Amann von den Reutlinger Israel-Mahnwachen haben Ahmad Mansour zum Infoabend über Antisemitismus eingeladen. Christel Amann hakt an einem Stehtisch die namentlich angemeldeten Besucher ab. Denn der als Psychologe und Extremismusforscher gefragte Talk-Show-Gast, der mit seiner süddeutschen Frau und Tochter in Berlin lebt, benötigt Personenschutz.

Wegen Anfeindungen und Drohungen gegen ihn wurde die Veranstaltung nicht beworben. Trotzdem ist die Kirche mit 260 Besuchern voll. Drei Polizisten in Zivil begleiten den nahbar wirkenden Referenten.

Klaus Amann (rechts) stellt Ahmad Mansour als Gast in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen in Betzingen vor.
Klaus Amann (rechts) stellt Ahmad Mansour als Gast in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen in Betzingen vor. Foto: Privat
Klaus Amann (rechts) stellt Ahmad Mansour als Gast in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen in Betzingen vor.
Foto: Privat

Zwei Kurzfilme über Angehörige der mehr als 1.200 Getöteten und 200 Verschleppten beim Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erinnern daran, dass 24 lebende Geiseln noch immer in Gaza festgehalten werden. Sie zeigen, das Thema bewegt. »Dieser Konflikt«, der ihn als arabischen, muslimischen, palästinensischen Menschen von klein an begleitete, begann nicht 1948 mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg nach der Unabhängigkeit Israels. Er reiche zurück zu den Judenpogromen in Deutschland. Seit sein Opa, der einst neben irakischen Armee-Einheiten kämpfte, 1996 neben einem Holocaustüberlebenden starb, ist für Mansour klar: Der Konflikt ist lösbar, »wenn die Menschen miteinander reden«.

»Wir können noch Jahrhunderte gegeneinander kämpfen, aber kein palästinensisches Kind wird dadurch ein besseres Leben haben«

Der Psychologe ist überzeugt: »Wir können noch Jahrhunderte gegeneinander kämpfen, aber kein palästinensisches Kind wird dadurch ein besseres Leben haben«. Reeducation, Ablehnung von Antisemitismus und Begegnung bringe für diese Region eine gute Zukunft, alles andere: Elend. Das beobachte er in seinem Vater: Jahrgang 1946, habe der die israelische Staatsbürgerschaft, beziehe dort seine Rente, lebe besser als die meisten Araber weltweit, »aber ist nicht bereit, Israel als Staat zu akzeptieren«. In vielen der zwei Millionen Araber in Israel sei die Kränkung so groß, »dass sie von Hass zerfressen sind«. Auch die Hamas-Täter: Dass die Ermordeten »super-links« und gegen Netanjahu waren, den Menschen in Gaza halfen und an Versöhnung glaubten, schützte sie nicht. »Weil die Terroristen an diesem Tag Juden ermorden wollten.« Den Anführern gehe es ums Ganze: »keine Zwei-Staaten-Lösung, sie wollen die Zerstörung Israels.«

Israeli, Araber, Extremismusforscher: Ahmad Mansour bei seinem Vortrag in Reutlingen.
Israeli, Araber, Extremismusforscher: Ahmad Mansour bei seinem Vortrag in Reutlingen. Foto: Claudia Reicherter
Israeli, Araber, Extremismusforscher: Ahmad Mansour bei seinem Vortrag in Reutlingen.
Foto: Claudia Reicherter

Der 48-Jährige geht einen andern Weg - und gilt deshalb vielen als Verräter. Am Tag des Überfalls sah er Dinge, »die meinen Glauben an die Menschheit in Frage stellten«. Ihm war klar: Das wird die ganze Welt verändern. Kriege gewinne und verliere man heute auf Tiktok und Instagram, »die Strategie emotionalisierter Bilder nutzte schon der IS«. Auch die Hamas habe gewusst, »dass Israel zurückschlagen muss« - »sie wollten diesen hässlichen Krieg«. Jeder Unbeteiligte, der getötet werde, sei einer zu viel, aber in einer militärischen Aktion sei das unvermeidbar. Mansour erinnert an die Bombardierungen deutscher Städte 1945, »die teilweise notwendig waren, um den Faschismus zu bezwingen«.

Etablierte Medien blickten »mit ihrer kognitiven europäischen Brille« auf den Nahen Osten. Online-Netzwerke funktionierten über Emotionen und Schwarz-Weiß: mit Palästinensern als Opfer und Israelis, die alle Täter seien. Nur so lasse sich in 30 Sekunden ein Nahostkonflikt erklären. »Schauen Sie mal, wie oft jemand auf der Straße versucht, Dinge zu filmen, die zu Empörung führen.« Darauf setzten Extremisten wie Populisten. Sie wollen nach dem Tag X - das war der 7. Oktober - die Straßen mobilisieren. Sinkende Ambiguitätstoleranz, dass Leute immer weniger komplexe Sachverhalte verstehen und Grautöne wahrnehmen können, führt ihn zum Geständnis des Täters von Mannheim.

Bei Besuchen in Schulen, Asylunterkünften und Gefängnissen treffe er immer mehr junge Leute, die »emotional ausgeschaltet haben«, nachdem sie via Handy über Monate »Einseitigkeit konsumierten«: schreckliche Bilder aus Gaza, teilweise real, teils KI-generiert. Für eine sachliche Auseinandersetzung fehlten Gegennarrative von Opfern und Zerstörung des Hamas-Überfalls. Deshalb seien wir inmitten einer »Radikalisierungswelle«.

»Unsere Partner auf palästinensischer Seite sind Menschen, die wollen, dass ihre Kinder in Sicherheit leben«

Zur legitimen Kritik an Israel - »die jeder ausüben darf und manchmal muss, auch in Bezug auf diesen Krieg« - gehöre, dass Menschen auf die Straße gehen. Nicht aber Aufrufe zur Ermordung von Juden, Hamas-Verherrlichung, zerrissene Bilder der Entführten. »Das ist Antisemitismus.« Den schürten Islamisten zunehmend mit Linksradikalen aus Identitätspolitik und Postkolonialismus - auch Leuten, die ursprünglich maximale Distanz zum Faschismus suchten. Sie böten aber keine Lösungen.

Ahmad Mansour (stehend links) und Klaus Amann eröffnen die Diskussionsrunde in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen i
Ahmad Mansour (stehend links) und Klaus Amann eröffnen die Diskussionsrunde in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen in Betzingen. Foto: Claudia Reicherter
Ahmad Mansour (stehend links) und Klaus Amann eröffnen die Diskussionsrunde in der Kirche der Christlichen Gemeinde Reutlingen in Betzingen.
Foto: Claudia Reicherter

Seine Perspektive: »eine Strategie für den Day After« analog zum Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts aktueller Demos gegen Hamas und den Krieg sagt Mansour, »man kann nur beten, dass die Menschen in Gaza es schaffen, gegen diese Mörderbande zu rebellieren und Alternativen für sich zu schaffen«. Partner auf palästinensischer Seite seien Menschen, »die einfach nur eine Sehnsucht haben, die wollen, dass ihre Kinder in Sicherheit leben«. Die gebe es. Es gehe darum, »Liebe zum Leben zu vermitteln«.

»Wir müssen die Dimensionen dieser Ereignisse verstehen. Und reagieren.« Wie? Indem wir soziale Medien wieder besetzen, klar sprechen, den »Kampf um die Seelen und die Herzen dieser Menschen gewinnen wollen«. Denn: Niemand wird als Antisemit geboren. Mit Bildung, Sensibilisierung, Empathie könne man viel erreichen. (GEA)