ETTLINGEN. Der Soziologe Michael Hartmann forscht seit vielen Jahren zur Konstanz von politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland. Eine zentrale These in seinem Buch »Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden« erklärt den Aufstieg der Rechtspopulisten damit, dass ein Großteil der politischen Elite den Bezug zur Lebensrealität der Masse der Bevölkerung verloren hat.
GEA: Herr Hartmann, die AfD steht derzeit in Umfragen bei etwa 20 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Werte für eine Partei, die im Verdacht steht rechtsextremistisch zu sein?
Michael Hartmann: Es gibt zwei Hauptreservoire der Rechtsextremen. Das ist zum einen die tief verankerte Traditions-linie rechter Überzeugungen und zum anderen gibt es Protestwähler, die diejenige Partei wählen, die sich am stärksten von den etablierten Parteien abgrenzt.
Es gab in den 1990er-Jahren einen rechten Flügel der CDU mit Leuten wie Martin Hohmann, Erika Steinbach oder Alexander Gauland, die heute in der AfD sind
Hartmann: Die berühmte Stahlhelm-Fraktion. Die zähle ich zur Traditionslinie. In Hessen, besonders in der Wetterau, haben diese Leute CDU gewählt, weil es die aussichtsreichste Partei war, die diese Interessen vertrat. In Baden-Württemberg auf einer Linie etwa von Pforzheim bis Nagold kann man eine Linie ziehen von NSDAP über die NPD und die Republikaner bis zur AfD-Hochburg. Diese Wähler der Traditionslinie sind für die etablierten Parteien schwer zu erreichen.
Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß äußerte ja einst, dass rechts von ihm nur noch die Wand sei …
Hartmann: Das war eine andere Zeit. Den meisten Menschen ging es gut. Außerdem wurde Franz-Josef Strauß nicht als abgehoben wahrgenommen. Ebenso wenig wie Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Moment mal, Helmut Schmidt war so gebildet, dass in kaum jemand auf seinem Niveau interviewen konnte …
Hartmann: Helmut Schmid war intellektuell, aber er wurde nicht als abgehoben wahrgenommen. Bei ihm wurde seine Intellektualität als eine Gabe wahrgenommen, die dem Land zugutekommt. Dass er die Lage der Bevölkerung nicht kennt und sich in erster Linie für seine eigene Karriere interessiert, das hätte man Schmidt nicht vorgeworfen.
»Helmut Schmidt hätte man nicht vorgeworfen, dass er die Lage der Bevölkerung nicht kennt«
Bei den Protestwählern der AfD haben Sie Hoffnung, dass die Etablierten sie zurückgewinnen können?
Hartmann: Im nördlichen Ruhrgebiet gibt es viele enttäuschte ehemalige SPD-Wähler, die sich abgehängt fühlen und AfD gewählt haben. Die könnte man mit einer richtigen Politik zurückholen. Aber man muss aufpassen. Das Beispiel Österreich zeigt, dass aus Protestwählern der FPÖ auch rechte Stammwähler werden können. Dort hat die FPÖ zwar bei den Regierungsbeteiligungen verloren, aber sie konnte auch stetig den Anteil ihrer Stammwähler steigern.
Sie sagen, dass die Diskussion um ein AfD-Verbot die AfD noch stärker macht …
Hartmann: Wenn Sie an Trump denken, dann wurde er durch die juristischen Vorwürfe gegen ihn noch stärker. Das ist mit der AfD ähnlich. In dem Maße, wie Alice Weidel attackiert wird, wird sie stärker. Die AfD profitiert, wenn ihre Politiker als Nazis beschimpft werden. Auf Höcke trifft das meiner Meinung nach zu, auf Weidel nicht. Der Begriff Faschismus wird entwertet, wenn er auf alles und jeden angewandt wird.
Dann hatte Friedrich Merz recht, als er sein Zuwanderungsbegrenzungs-gesetz in den Bundestag einbrachte und meinte, es sei ihm egal, wer mit ihm stimmt?
Hartmann: Es funktioniert nirgendwo, dass man die Rechten schwächt, indem man ihre Forderungen aufnimmt. Wenn ein Thema wie jetzt die Migrationspolitik das Hauptthema im Wahlkampf ist, dann profitiert nur die AfD davon. Die Leute wählen am Ende immer das Original. Mal davon abgesehen ist die Migrationspolitik generell deutlich restriktiver geworden – auch im grün regierten Baden-Württemberg.
Dann hat Sahra Wagenknecht recht, wenn sie sagt, dass die Linke vor lauter Wokeness die Interessen der kleinen Leute vergessen hat?
Hartmann: Die Wokeness hat eine Rolle gespielt beim Niedergang der Linken, als sie ihren Status verloren hat als die Partei, die sich um den Osten gekümmert hat. Aber die Wokeness war nicht das Entscheidende, Wagenknecht hat das überbetont. Ich habe immer gesagt, dass die Linke Probleme bekommt mit ihren vielen neuen Mitgliedern, die jung und akademisch sind. Die haben nur noch wenig Bezug zur Lebensrealität der Mehrheit der Bevölkerung. Die Stärke der Linken in einigen Universitätsstädten hat ihren Niedergang in den anderen Gebieten bedingt. Die jetzigen AfD-Hochburgen im Süden Thüringens waren in den Nullerjahren keine rechten Hochburgen, sondern linke.
»Akademikertöchter verdrängen ArbeitersöhneEliten werden durch Diversität homogener«
Eine Ihrer Thesen zur Diversität in den Eliten ist: Akademikertöchter verdrängen Arbeitersöhne …
Hartmann: Das habe ich etwas zugespitzt so formuliert. Wenn man sich etwa die Familie von Bettina Orlopp, der Vorstandsvorsitzenden der Commerzbank, anschaut, dann war ihr Vater Partner bei McKinsey und wäre Allianz-Chef geworden, wenn er nicht Krebs bekommen hätte. Es gibt die Tendenz, dass, wenn Frauen in Vorstände kommen, sie aus dem bürgerlichen Milieu kommen. Für die Professoren hat eine Doktorandin das untersucht. Seit den 1980ern ist der Anteil an Professorinnen stark gestiegen, dabei aber der Anteil an Professorinnen aus Akademikerfamilien um mehr als das Fünffache gestiegen und der Anteil von Arbeitersöhnen und auch Arbeitertöchtern an den Professuren zugleich deutlich gesunken ist. Ähnlich ist es in den Medien: Hier ist zwar der Anteil an Moderatorinnen mit Migrationshintergrund gestiegen, aber von denen haben die meisten einen akademischen Hintergrund. Man kann also sagen, dass die Eliten durch die Diversitäts-Programme sozial noch homogener geworden sind.
Ist es nicht absurd, dass Millionäre wie Elon Musk und Donald Trump von Wählern mit geringem Einkommen als Anti-Establishment wahrgenommen wurden?
Hartmann: Donald Trump ist zwar reich, aber er äußert sich so, wie sich seine Wähler äußern würden. Er verhält sich eben nicht so zurückhaltend, wie es die klassischen Reichen tun. Kamala Harris hat die Unterstützung der ganzen Hollywood-Stars eher geschadet. Das hat eher dazu beigetragen, dass sie als Establishment wahrgenommen wurde.
Was können die etablierten Parteien tun, um Protestwähler von der AfD zurückzugewinnen. Reicht da ein linkes Wahlprogramm?
Hartmann: Die SPD hat ja sozial ein relativ linkes Wahlprogramm. Das Problem ist, dass die SPD seit 1998 mit Ausnahme von vier Jahren immer in der Regierung war und sich in dieser Zeit die Schere zwischen Arm und Reich deutlich vergrößert hat. Die SPD hätte etwas dagegen tun können, wenn sie gewollt hätte. Wenn Vertrauen erst einmal verspielt ist, dann ist es schwierig. Bei der CDU ist es so, dass sie bis auf den ganz rechten Flügel relativ stabil ist. Das kann bröckeln, wenn die Automobilindustrie massenhaft Personal abbaut. Im nördlichen Ruhrgebiet hat man gesehen, was passiert, wenn der Wohlstand wegbricht. Denn in Baden-Württemberg und Bayern gibt es eine Arbeiterschaft, die bei Daimler, Porsche und BMW gut verdient und CDU/CSU wählt. Das Beispiel Österreichs zeigt, dass die ÖVP zunächst auch stabiler war als die SPÖ und das dann gebröckelt ist.
Die CDU hat ja mit Friedrich Merz einen Kanzlerkandidaten, der sich selbst zwar zur Mittelschicht zählt, aber mit einer Cessna zu Christian Lindners Hochzeit nach Sylt fliegt …
Hartmann: Friedrich Merz ist der Prototyp des abgehobenen Politikers. Er hat zwar erzählt, dass er viel Geld verdient, weil er mehr als acht Stunden am Tag gearbeitet hat. Aber das meiste Geld hat er mit der Privatisierung der West-LB verdient und den Auftrag dazu verdankt er seinem CDU-Parteifreund Jürgen Rüttgers. Für 5.000 Euro am Tag wären wahrscheinlich einige von uns bereit, auch mal mehr als acht Stunden zu arbeiten.
»Die Stärke der Linken in Universitätsstädten hat ihren Niedergang im Osten bedingt«
Welche Hoffnung haben Sie, dass sich die Entwicklungen wieder ändern?
Hartmann: Ich habe für die nächste Zeit wenig Hoffnung. Unter Merz dürfte es sogar noch schlimmer werden. (GEA)
ZUR PERSON
Michael Hartmann, 1952 in Paderborn geboren, war bis zu seiner Pensionierung Professor für Soziologie an der TU Damrstadt. Er forschte zur Soziologie von Industrie-, Betrieben, Organisationen und Eliten und war bis 2021 im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Hochschulpolitisch setzt er sich gegen Studiengebühren und gegen die Förderung von Eliteuniversitäten ein. Seit seiner Pensionierung lebt er in der Nähe von Ettlingen im Landkreis Karlsruhe. Am Montag, 17. Februar, 19 Uhr, spricht Michael Hartmann im franz.K. in Reutlingen über das Thema »Wie dem Rechtspopulismus begegnen?«. Mitveranstalter sind die Volkshochschule und die Katholische Erwachsenenbildung. (GEA)