Nein, U2-Fans brauchen sich keine Sorgen zu machen. Spekulationen, die legendäre irische Band stehe vor dem Aus, wies Gitarrist The Edge unlängst klar zurück. »Es wäre sehr schwer, U2 aufzulösen, einfach deshalb, weil es für uns alle so gut funktioniert«, sagte der 61-Jährige dem britischen »Telegraph«. »Immer, wenn ich ans Aufhören denke, erfinde ich U2 irgendwie neu.«
Für ihr neues Album haben U2 gewissermaßen ihre eigenen Lieder neu erfunden. »Wir waren neugierig darauf, wie es wäre, unsere frühen Songs mit uns in die Gegenwart zu bringen«, so The Edge im PR-Text. Der Gitarrist hat das Mammutwerk »Songs Of Surrender« (VÖ 17. März) kuratiert. »Was als Experiment begann, entwickelte sich schnell zu einer persönlichen Obsession, denn so viele unserer Songs wurden neu interpretiert.«
Ganze 40 Lieder - Welthits, Fanfavoriten und nicht ganz so bekannte Tracks - haben U2 neu eingespielt, freigelegt und teilweise so verändert, dass sie eine ganz andere Atmosphäre, Wirkung und Bedeutung bekommen. Nicht nur Arrangements, Tempo und manchmal die Tonart sind neu, an einigen Stellen wurden sogar Songtexte überholt.
Der 90er-Jahre-Hit »One« bekommt als schwermütige Pianoballade zusätzliches Gewicht. »Where The Streets Have No Name« wird ohne den treibenden Rhythmus nur von einem Ambient-artigen Klangteppich getragen. Die einst so wuchtigen »Who's Gonna Ride Your Wild Horses«, »Pride« oder »Sunday Bloody Sunday« werden zu Lagerfeuer-Balladen.
Klavier und Synthesizer dominieren
Larry Mullen, der aus gesundheitlichen Gründen nicht bei der kommenden U2-Konzertreihe in Las Vegas dabei sein wird, hat auf dem Album als Schlagzeuger nicht viel zu tun. Der Bass von Adam Clayton ist ebenfalls nur spärlich zu hören, weil Klavier und Synthesizer dominieren. Selbst der Gitarrensound rückt dafür in den Hintergrund, wie etwa bei »Electrical Storm«.
»Walk On« war ein Song über Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die nach dem Völkermord an den Rohingya international in Ungnade fiel. Mit neuem Text ist »Walk On (Ukraine)« eine Anti-Kriegs-Hymne für die Ukraine und praktisch ein anderer Song. In der ersten Zeile nimmt Bono Bezug auf den ukrainischen Präsidenten - und ehemaligen TV-Komiker - Wolodymyr Selenskyi: »Wenn der Comedian die Bühne betritt und keiner lacht ...« Später kommt ein Kinderchor dazu.
»Als würde Bono dir ins Ohr singen«
Ein wichtiges Ziel sei es gewesen, »mehr Intimität in die Songs zu bringen«, sagte The Edge im »Telegraph«-Interview, »so, als würde Bono dir ins Ohr singen«. Das ist bei vielen Songs hervorragend gelungen. Der Klang ist so direkt und nahbar, dass man beim Hören wirklich das Gefühl bekommt, der Sänger würde im selben Raum stehen.
Für »Songs Of Surrender« arbeiteten U2 unter anderem wieder mit langjährigen Weggefährten wie Brian Eno und Daniel Lanois (»Achtung Baby«) zusammen - und mit Produzentenlegende Bob Ezrin (Kiss, Alice Cooper). Der 73-Jährige, der Pink Floyds »The Wall« in seiner Vita stehen hat, war dem Vernehmen nach maßgeblich an der Auswahl der Songs und der Arrangements beteiligt.
Das Albumcover zeigt Fotos von Bono, The Edge, Adam Clayton und Larry Mullen in jüngeren Jahren. »Songs Of Surrender« erscheint in mehreren Formaten und ist in der Komplettausgabe als Box in vier CDs bzw. LPs unterteilt. Allerdings waren Mullen und Clayton in dieses Projekt wohl etwas weniger involviert als sonst.
Nicht bei allen Neuaufnahmen sind die Änderungen so drastisch. Der Rockkracher »Vertigo« ist überwiegend »unplugged« - Bonos Stimme, Cello und Akustikgitarre. »Bad« von »The Unforgettable Fire« oder die Hitsingle »With Or Without You« vom Megaalbum »The Joshua Tree« sind, obwohl etwas anders gesungen und mit neuer Klimax, nicht so weit vom Original entfernt wie andere Tracks auf »Songs Of Surrender«.
Bono gut bei Stimme
Ein wenig schmunzeln muss man bei »Desire«, das Frontmann Bono durchgängig mit Falsetto singt. Warum sollten sich die oft so seriösen U2 bei so einem Projekt nicht ein wenig Spaß gönnen? Der 62-jährige Bono überzeugt im Übrigen mit großartiger Stimme - durch die klangliche Intimität fällt das umso mehr auf. »Er weiß heute besser, wie er seine Stimme als Werkzeug der Interpretation einsetzt«, sagt The Edge. »Das kommt mit durch die Erfahrung.«
Nicht nachvollziehbar ist, dass das noch recht frische Album »Songs Of Innocence« von 2014 mit fünf Liedern am stärksten in der Auswahl vertreten ist - vor großen Klassikern wie »The Joshua Tree«, »Achtung Baby« (je vier Tracks) und »War« (drei). Auf Updates von »Song For Someone« oder »Cedarwood Road«, die schon als Akustikversionen veröffentlicht wurden, hat vermutlich niemand gewartet.
»Wir haben uns erlaubt, jegliche Ehrfurcht vor unseren Originalen abzulegen«, sagte The Edge im »Telegraph« - eine Grundvoraussetzung, damit Neuaufnahmen überhaupt eine Berechtigung haben. Schade nur, dass viele neue Versionen zwar für sich genommen wunderbar sind, die 40 Tracks am Stück jedoch stilistisch einander so ähnlich sind, dass »Songs Of Surrender« nach einer Weile etwas monoton wirken kann.
Dann ertappt man sich womöglich beim Wunsch, mal wieder die alten und nicht ganz so alten U2-Klassiker aufzulegen - oder zu streamen. Die Originale bleiben eben unübertroffen. Sich auf ihrer Vergangenheit auszuruhen kommt indes nicht infrage für die irischen Superstars. Im »Telegraph« verriet The Edge, dass er bereits an neuer Musik arbeitet - im klassischen U2-Bandsound mit viel Gitarren, Bass und Schlagzeug.
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