Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse ist mehrfach von Demonstranten unterbrochen worden. Während der Ansprache riefen mehrere im Gewandhaus verteilte Aktivisten laut, aber weitgehend unverständlich in die Rede des SPD-Politikers hinein. Nach Angaben von mehreren näher sitzenden Zeugen warfen die Rufer der israelischen Regierung einen Genozid (Völkermord) im Gaza-Streifen vor.
Weite Teile des Protestes wurden von anhaltendem Beifall des Publikums übertönt. »Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen - nicht des Geschreis«, sagte Scholz begleitet von Applaus.
Nach einigen Minuten konnte er seine Eröffnungsrede fortsetzen. Dabei outete sich Scholz als Leseratte. »Uns alle - und da schließe ich mich ein - verbindet die Liebe zum Lesen«, sagte er. »Ob als Kind abends vor dem Einschlafen, als junger Politiker im Zug zwischen Hamburg und Bonn, oder jetzt, wann immer es meine Zeit erlaubt - seit ich denken kann begleiten mich Bücher durch mein Leben.«
Er sei genauso wenig auf ein bestimmtes Genre festgelegt wie die Messe: Wissenschaft oder Gesellschaft, Abenteuer oder Krimi, Sachbuch oder Roman. »Wenn man es zulässt, dann wartet hinter dem Buchdeckel die Überraschung, die uns im Netz oft abhandenkommt, weil uns Algorithmen dort vor allem das zeigen, was wir sowieso gut finden, oder gut finden sollen.« Wer es zulasse, finde überall etwas Interessantes, Spannendes oder Berührendes.
Wer lese, lasse andere Perspektiven als die eigene zu, nehme persönlich Anteil an Entwicklungen, so Scholz. Mit jedem Kapitel, mit jeder neuen Seite könnten Gegensätze überwunden werden, die im Alltag unüberbrückbar erschienen. »Lesen ist deswegen der tägliche Beweis, dass wir uns trotz unserer Unterschiede verstehen können, dass unsere Gesellschaften, in Deutschland, in Europa mitnichten dazu verdammt sind, auseinanderzudriften.«
»Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen«
Scholz appellierte: »Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen, die ganzen Gruppen in diesem Land die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprechen wollen. Glauben wir niemals denen, deren Antworten am Ende auf Intoleranz, Ausgrenzung und Hass hinauslaufen.« Dies würde das Land »nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich ruinieren«.
Die Leipziger Buchmesse - nach Frankfurt die wichtigste deutsche Literaturschau - läuft von Donnerstag bis Sonntag. 2085 Aussteller aus 40 Ländern präsentieren ihre Bücher und Neuerscheinungen. Nach einem positiven Vorverkauf wird mit einem Plus bei den Besucherzahlen gerechnet, im vergangenen Jahr kamen 274.000 Menschen.
Als Gastland präsentieren sich in diesem Jahr die Niederlande und Flandern als gemeinsamer Sprach- und Kulturraum unter dem Motto »Alles außer flach«. Geplant sind rund 100 Veranstaltungen mit 41 Autorinnen und Autoren.
Buchmesse setzt auf Vielfalt
Die Buchmesse sieht sich als ein Zentrum für gelebte Demokratie. »Als Buchmesse setzen wir ausdrücklich auf Vielfalt«, sagte die neue Direktorin Astrid Böhmisch. »Freiheit, Demokratie und Diversität sind nicht selbstverständlich, sondern Werte, für die es immer wieder zu kämpfen gilt.«
Martin Buhl-Wagner, Geschäftsführer der Leipziger Messe, sagte: »Die gesellschaftliche Verantwortung der Leipziger Buchmesse hat gerade jetzt einen ganz besonderen Stellenwert.« Die Zeiten seien herausfordernd, sagte er unter Hinweis auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, den Rechtsruck und den erstarkenden Populismus in Deutschland und Europa. Umso wichtiger sei es, dass miteinander geredet und auch gestritten werde. »Deshalb ist die Leipziger Buchmesse auch ein Ort der Meinungsvielfalt und des Einstehens für Demokratie und demokratische Werte.«
»Wir müssen unsere Demokratie verteidigen«
Auch Peter Kraus vom Cleff, Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, warnte vor aktuellen Gefahren. »Wir müssen unsere Demokratie verteidigen. Demokratische Grundwerte sind international wie in Deutschland immer mehr Angriffen ausgesetzt.« Die Buchbranche leiste einen wesentlichen Beitrag für eine offene und informierte Gesellschaft.
In diesem Jahr lockt erneut das Lesefest »Leipzig liest« mit 2800 Veranstaltungen an 300 Orten in der ganzen Stadt. Auf dem Messegelände sind die Manga-Comic-Con seit 10 Jahren und die Antiquariatsmesse seit 30 Jahren dabei.
Zur Eröffnung wurde der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 an den deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm für sein Buch »Radikaler Universalismus« verliehen. In seiner Dankesrede forderte er im Namen der deutsch-israelischen Freundschaft auch harte Kritik aus Deutschland zum Nahost-Konflikt.
»Was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft? Da, wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder. Eines, das mir besonders am Herzen liegt«, sagte er. Doch könne keine deutsch-jüdische Freundschaft existieren, »wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.«
Boehm: »Wegen der Freundschaft muss die Wahrheit nicht geopfert werden, ganz im Gegenteil. Harte Wahrheiten müssen offen ausgesprochen werden. Denn wir sollen Freunde bleiben.«
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich für Donnerstag zu einem Rundgang angesagt und diskutiert danach mit den Autoren Ingo Schulze und Anne Rabe über den Zustand der Demokratie. Buhl-Wagner sieht in Steinmeiers Visite ein »klares Zeichen für den Stellenwert der Buchmesse«.
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