Dieses Theaterstück ist ein Frontalangriff auf alle Sinne. Bei langsam verglühendem Abendlicht prallen auf der Freilichtbühne vor dem Kaiserdom die Lebenswelten aufeinander. Mit »Brynhild« präsentieren sich die Nibelungen-Festspiele in Worms in diesem Jahr als Käfig voller Narren. Drachentöter Sigurd ist als Mörder blamiert, und die Walküre Brynhild will nicht lassen von ihrem Traum vom Sieg der Liebe über die Macht. Wer bestimmt, wer wir sind, fragt Autorin Maria Milisavljevic. Gelegentlich schimmert sogar Humor am Freitagabend durch das Drama über Drachenblut und Nibelungentreue.
Zehn Tonnen feinkörniger Sand sind auf der lilafarbenen Bühne verteilt. Baumstämme liegen herum, Treppen führen ins Nichts. Wüstenlandschaft, Endzeitstimmung. Doch das Theaterstück beginnt als Film. Auf einer 56 Quadratmeter großen Leinwand ist zu sehen, wie Sigurd den Drachen Fafnir tötet - gespielt von Ralf Moeller (»Gladiator«). »Time to die« röchelt der Recke aus Recklinghausen in die Kamera. Es ist eine Schlüsselszene, denn es ist kein heldenhafter Kampf. Der Sieg über den Drachen in Menschengestalt entpuppt sich als erste von Sigurds vielen Niederlagen an diesem heißen Sommerabend.
Ein buntes Panoptikum
Regisseurin Pınar Karabulut inszeniert »Brynhild« als comichafte Variation des historischen Stoffs. Ein buntes Panoptikum an Figuren stolpert durch das mittelalterliche Epos: Wer sind wir - und wenn ja, warum? Auf dem Weg zur Antwort findet das Ensemble in einer der ältesten Städte Deutschlands in dem knapp dreistündigen Spektakel bloß weitere Fragen - und immer wieder Gewalt. Vor den Augen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius auf der Tribüne sind Assoziationen mit dem Ukraine-Krieg kaum zu vermeiden. Der Samstag nach der Premiere ist der 500. Tag des russischen Angriffskrieges.
Karabulut stellt in dem übergroßen Sandkasten alles zur Disposition und lotet sehr viel aus, von Geschlechter-Zuschreibungen bis zur Frage der Herkunft, und zeichnet ein Sittengemälde, für das Intendant Nico Hofmann diesmal keine großen Stars nach Worms geholt hat. Seit Beginn der Festspiele 2002 gab es immer wieder bekanntere Namen wie Klaus Maria Brandauer oder Jürgen Prochnow. Diesmal setzt Hofmann auf ein vielfältiges und diverses Ensemble meist mit Theatererfahrung.
Man wolle in einer »aufrichtigen Inszenierung« das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft reflektieren, hatte der Ufa-Chef gesagt. Vor allem Lena Urzendowsky als kampfesmüde Brynhild entwickelt im popkulturellen Goldkostüm eine enorme Präsenz.
Publikum wird gefordert
Die Brynhild von Milisavljevic orientiert sich an der sogenannten Edda-Lücke, einer Leerstelle in der Version der Lieder »Edda«. Die Forschung geht davon aus, dass Seiten herausgerissen wurden.
»Brynhild« verlangt den rund 1400 Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne viel ab. Mal auf der Leinwand, mal auf der Bühne, mal in einem Restaurant als Kulisse und mal im Dom - das Ensemble um Königstochter Kriemhild und den Mörder Hagen bespielt viele Ebenen.
Manchmal wirken die Gestalten schrill und degeneriert wie von den Science-Fiction-Filmen »Mad Max« oder »Captain Future« entliehen. Auch Fans von »Matrix« und Quentin Tarantino kommen auf ihre Kosten. Immer wieder kippt das Geschehen ins Absurde. Es ist wie angekündigt eine »konsequent gegenwartsbezogene Lesart«. Nibelungen 2.0.
Das Nibelungenlied gehört zu den Lieblingssagen der Deutschen. In »Brynhild« sind alte Gewissheiten brüchig geworden. Laina Schwarz als Kriemhild, Jens Albinus als Reginn und Simon Kirsch als Gunnar sehen das Unheil nahen - und scheuen doch Veränderung. Darin sind sie soviel - oder eher so wenig - Helden wie wir.
Wie alle in diesem Stück steht Bekim Latifi als Sigurd alias Siegfried am Ende auf den Trümmern seiner Träume. Das Drachenblut hat seinen Zauber verloren. »Wie einfältig ist der Glaube, dass der Mann nur an einer geheimen Stelle verwundbar ist« erklingt auf der Bühne. In Worms ist »Brynhild« noch bis 23. Juli zu sehen.
© dpa-infocom, dpa:230708-99-328579/4