Commissario Guido Brunetti aus der erfolgreichen Venedig-Krimiserie ist zwar seit 30 Jahren ewig jung, aber seine Schöpferin Donna Leon kann ein Liedchen vom Älterwerden singen.
»Irgendwann werden wir mit der Realität konfrontiert, dass wir plötzlich im Körper eines alten Menschen leben«, schrieb sie gerade in einem Geschichtenband über ihr Leben. Schwer zu glauben, aber die drahtige Autorin wird 80 Jahre alt (28. September). Mit Feiern hat sie allerdings nichts am Hut. »Ich bin eigentlich kein sehr geselliger Mensch«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.
Statt deshalb in Melancholie zu verfallen, ätzt sie aber mit ihrem gewohnt scharfen Humor lieber über die Wehwehchen des Alters. Im jüngsten Brunetti (»Milde Gaben«) etwa: Da lechzt ein Mann »in einem Alter, wo die Arbeit aufhört und alles zu verfallen beginnt: Familie, Zähne, Freundschaften, Augen, Knie - nach dem Elixier ewiger Jugend, was nur ein Euphemismus war für Sex mit einer viel jüngeren Frau.«
Leon will nicht die ewige Jugend, aber weiter ein gutes Leben. Ihr Rezept: Omega 3, Vitamin D und körperliche Betätigung. Das sei nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen, sondern Ergebnis einer Studie zu gesundem Altern in Zürich, an der sie teilnimmt. »Ich möchte gesund sein, so lange ich lebe«, sagt sie. »Wenn ich dafür etwas so Simples tun kann, das allem Anschein nach hilft, dann tue ich das auch.«
Der Krimi für gehobene Ansprüche
Die gebürtige Amerikanerin hat mit dem kultivierten Brunetti und seiner cleveren Frau Paola den Krimi für gehobene Ansprüche geschaffen. Der Kommissar, der Klassiker in Originalsprache liest, und die Professorin für englische Literatur, da kommen immer wieder tiefgründige Unterhaltungen zustande. »Mich interessiert am Krimi weniger das «wer» als das «warum»«, sagt Leon. »Ich will wissen, was jemanden zu einer Tat getrieben hat.« So spürt sie menschlichen Irrungen, gesellschaftlichen Zwängen und politischen Machenschaften nach und zeichnet so filigrane Porträts der Protagonisten, dass manchmal die Frage offen bleibt: gab es ein Verbrechen? Einen Mörder?
Dem ohnehin überlaufenen Venedig bescherte sie mit der erfolgreichen Serie aber eine neue Welle von Touristen, die auf den Spuren von Brunetti eifrig Schauplätze aufsuchen. Die Ironie: genau die Touristenhorden waren es, die Leon nach mehr als 20 Jahren aus Venedig fliehen ließen. Sie lebt jetzt schon seit vielen Jahren in einem kleinen Dorf in der Schweiz, nahe der italienischen Grenze und hat inzwischen einen Schweizer Pass. Venedig besucht sie nur noch.
Die Brunetti-Fans bereiteten der Polizei in Venedig so viel Kopfzerbrechen, dass diese Leon um Hilfe bat. Gerade vor der Questura, dem Polizeipräsidium, in der auch der fiktive Brunetti arbeitet, tummeln sie sich und machen Fotos. Sie bekommen dort nun einen Brief in die Hand gedrückt. Brunetti, Elettra und alle anderen seien auf einer Fortbildung und nicht in Venedig, steht darin, man könne aber zum Beispiel die Anlegestelle des Polizeibootes oder den Kanal sehen. »Für die Begeisterung, die Sie zur Questura geführt hat, danke ich Ihnen, und hoffe, auch die künftigen Bücher werden Ihnen Freude bereiten. Hochachtungsvoll, Donna Leon.«
Leon hat keine Ermüdungserscheinungen
Dass die Serie weitergeht, ist keine Frage, denn Leon verspürt keinerlei Ermüdungserscheinungen: »Es macht so einen Spaß, die Bücher zu schreiben«, sagt sie. »Ich möchte auch selbst noch viel mehr über Brunetti herausfinden. Und das geht nur, wenn ich weiter schreibe.«
Leon ist Literaturwissenschaftlerin. Sie wuchs in New Jersey an der US-Ostküste mit zwei irischen Großmüttern und je einem Großvater aus Spanien und aus Nürnberg auf. »Eine typische amerikanische Promenadenmischung« nennt sie das. Deutsche Züge hat sie an sich nie entdeckt. Nach dem Studium hat sie in Saudi-Arabien und dem Iran Englisch unterrichtet, bevor sie in Italien eine neue Heimat fand.
Ihre große Leidenschaft gilt der Barockmusik. 2012 half Leon bei der Gründung des Barock-Ensembles Il Pomo d'Oro. Sie fördert es großzügig, ist bei vielen Auftritten dabei und hat zahlreiche preisgekrönte Tonaufnahmen mitfinanziert. »Wenn ich zwischen Bücher schreiben und Musik fördern wählen müsste, wäre die Sache klar: die Musik«, sagte Leon, die selbst kein Instrument beherrscht. »Weil Musik die größere Freude bereitet. Musik ist eine emotionale Sache, während die Bücher eine intellektuelle Angelegenheit sind.« Sie sei nicht besonders stolz auf ihre Bücher, sagt sie, aber sehr stolz auf die Aufnahmen des Orchesters. »Das wird weiter existieren, wenn ich nicht mehr da bin.«
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