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Mössingen: Wie aus der alemannischen Siedlung eine große Kreisstadt wurde

Halbzeit im großen Jubiläumsjahr 2024: 774 wurde Mössingen erstmals in einer Urkunde genannt.  1974 wurde die Gemeinde mit ihren 13.500 Einwohnern zur Stadt erhoben. Viele Veranstaltungen stehen noch bevor

Foto: Manfred Grohe
Foto: Manfred Grohe

MÖSSINGEN. Halbzeit im großen Jubiläumsjahr 2024: 774 wurde Mössingen erstmals in einer Urkunde genannt. In dieser schenkte ein Hitto seinen gesamten Besitz in »messinger marca« dem Kloster Lorsch. Der Text ist im Lorscher Codex, einem Kopialbuch des Klosters aus dem 12. Jahrhundert, zu lesen. Mössingen feiert zudem 50 Jahre Stadterhebung. 1974 wurde die Gemeinde mit ihren 13.500 Einwohnern zur Stadt erhoben. 2009 wurde Mössingen Große Kreisstadt, die dritte im Landkreis Tübingen. Doch von Anfang an.

1.250 Jahre und mehr: Die erste urkundliche Erwähnung ist nicht mit einer Ortsgründung gleichzusetzen. Die alemannische Siedlung mit lockeren Gehöften bestand schon vor der Mitte des 6. Jahrhunderts. Der Filialort Belsen mit seiner um 1140 erbauten romanischen Kapelle geht auf eine Besiedlung des 8. bis 10. Jahrhunderts zurück, die ursprünglich auf dem Hügel rundum der Kapelle gelegen hat. Belsen wird 1342 erstmals genannt. Zwischen Zollern und Württemberg: Im Hochmittelalter stand Mössingen unter dem Einfluss der Grafen von Zollern. 1414 verpfändete der hoch verschuldete Graf Friedrich der Öttinger Mössingen an Württemberg, noch mit einem Wiederkaufsrecht. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen, denn 1429 gingen Mössingen und Belsen endgültig an Württemberg über. Nachfolgend mussten neue Grenzverläufe festgesetzt werden, wonach der Tannbach, ein Zufluss der Steinlach bei Ofterdingen, Zollern und Württemberg trennen sollte.

Neubauten im Ortskern: Die repräsentativen Bauten im Mössinger Ortskern stammen aus dem 16. Jahrhundert: Die Peter- und Paulskirche (1517–1527) ersetzte den Vorgängerbau (Teile des Vorgängerturms sind integriert). Die Fertigstellung des benachbarten Pfarrhauses erfolgte kurz danach, 1529. Als Württemberg 1534 reformiert wurde, wohnte darin die Reihe der evangelischen Pfarrer. Das Alte Rathaus entstand 1567, wo zu dieser Zeit der Peter Ayen genannt wird, in Belsen der Schultheiß Martin Steinhilber. Zwar hatte Belsen einen eigenen Rat, entschieden wurde jedoch im Mössinger Gemeinderat für beide Orte gemeinsam.

Zentralort: Auf die zentralörtliche Bedeutung Mössingens im Amt Tübingen deutet bis heute das 1467 erbaute Amtshaus bei der Peter- und Pauls-Kirche hin. 1597 wurde der Amtmann Martin Haag genannt. Das örtliche Dorfgericht, vor dem Streitfälle der Dorfgemeinde verhandelt wurden, war auch für benachbarte Gemeinden zuständig. Auch zum Handel kamen die Einwohner aus umliegenden Orten, zumal ab etwa 1707 »der Flecke Mößingen nunmehr befugt [war], alle Jahr den Dienstag nach Michaelis [29. September], einen Jahr-, Roß- und Viehmarkt zu celebrieren«. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein offizielles Unteramt eingerichtet.

Reiches Bauerndorf verarmt. Noch Anfang des 17. Jahrhunderts galt Mössingen als vermögend. Als sich nach dem 30-jährigen Krieg bis Ende des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung auf 2.300 Personen verdreifachte, wurde die Versorgung der Einwohner immer schwieriger. Auch die geltende Realteilung, bei der der Familienbesitz unter den Kindern aufgeteilt wurde, führte zu starker Güterzersplitterung und Verarmung. Um mehr Ackerland zu gewinnen, wurden Brachflächen umgenutzt.

Zubrot durch Handwerk und Branntwein: Die Einwohner suchten sich neue Verdienstmöglichkeiten wie die Leinenweberei. Auch das spezielle Mössinger Handwerk der Rechen- und Gabelmacherei entwickelte sich. Zwischen 1829 und 1866 waren knapp 50 dieser Handwerker steuerlich registriert. Auch der Obstanbau gewann an Bedeutung, aus dem sich die Branntweinbrennerei als lukratives Gewerbe entwickelte. In Mössingen und Belsen existierten um 1800 über 300 Brennereien. Auch wenn der Branntwein nach dem Ende der Napoleonischen Kriege nicht mehr so viele Abnehmer fand, blieb der Obstbau bedeutend. Ab 1847 gab die Gemeinde Allmandteile an Bürger aus mit der Auflage, auf den Grundstücken Obstbäume zu pflanzen. Ende des 19. Jahrhunderts wird der Mössinger Obstbau als »der bedeutendste im Bezirk« bezeichnet.

Spitzenreiter in der Auswanderung. Doch die Existenzmöglichkeiten reichten weiterhin nicht für alle. Viele Einwohner suchten ihr Glück in der Ferne. Mössingen war Spitzenreiter in der württembergischen Auswanderung. Zwischen 1782 bis 1785 wanderten 19 Familien mit 109 Personen nach Preußisch-Polen aus. Von 1804 bis 1842 verließen weitere 71 Mössinger Familien ihre Heimat in Richtung russische Schwarzmeerregion, Polen und Kaukasus. Und zwischen 1871 bis 1895 wanderten 30 Prozent der Bewohner in Richtung Nordamerika aus.

FOTOS: PR MÖSSINGEN, GROHE
FOTOS: PR MÖSSINGEN, GROHE Foto: Pr Public Relations
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Foto: Pr Public Relations

Baden in Sebastiansweiler: 1790 entstand an der Schweizer Chaussee (heute B 27) der Filialort Sebastiansweiler, benannt nach dem Belsener Sebastian Streib, der an der prominenten Fernstraße den Gasthof »Zur Sonne« erbaute. Als der Tübinger Mediziner Johann Hermann Friedrich Autenrieth die Wirkung der Schwefelquelle des mittelalterlichen Butzenbades wiederentdeckte, kaufte er sie 1829 und ließ sie fassen. Im Gasthaus Sonne wurde ein kleiner Badebetrieb eröffnet, der sich zum beliebten Kurbetrieb mit weitläufigem Parkgelände entwickelte. 1924 wurde die Basler Mission neuer Eigentümer, die die Anlage zum Erholungsheim für Missionare ausbaute. Mit der Anerkennung als Heilbad erlangte der Ort 1933 schließlich die Bezeichnung Bad Sebastiansweiler. Heute betreibt die Evangelische Heimstiftung ein modernes Zentrum für Rehabilitation, Pflege und Therapie.

Mit der Eisenbahn kam die Industrie: Mit dem Anschluss an das württembergische Eisenbahnnetz 1869 erfuhr der Ort einen Industrialisierungsschub. 1871 gründete die Bönnigheimer Nähgarnspinnerei Amann & Söhne einen Filialbetrieb in Mössingen. Als Amann 1920 schloss, wurden die Fabrikgebäude fünf Jahre später von der Trikotagefabrik Merz aus Tailfingen übernommen. Ebenfalls Anfang der 1870er-Jahre begann Johann Georg Hummel den Betrieb einer Mechanischen Buntweberei, die 1895 von Ungerer und Dietrich, 1904 von Bernheim & Söhne weitergeführt wurde. 1919 kauften die Stuttgarter Brüder Artur und Felix Löwenstein den Betrieb und begründeten die Firma Pausa. Neben der Buntweberei führten sie den Stoffdruck ein. Die kreative Zusammenarbeit mit Künstlern und Entwerfern aus den Wiener Werkstätten, dem Werkbund und dem Bauhaus brachte der Firma internationalen Erfolg. Als dritte große Textilfabrik wurde im Jahr 1901 eine Niederlassung der Pfullinger Weberei Burkhardt in Mössingen gegründet. Allein in diesen drei großen Textilfabriken waren 439 Beschäftigte tätig.

Linkes Arbeiter- und Bauerndorf: Doch die Industrie brachte keinen Wohlstand. Die Textilbetriebe zahlten niedrige Löhne und beschäftigten überwiegend Frauen. Viele Männer pendelten zur besser bezahlten Lohnarbeit nach Hechingen oder Reutlingen. Die Handwerker im Dorf wirtschafteten in der Regel im Ein-Mann-Betrieb. Nach der Arbeit ging es noch in die Nebenerwerbslandwirtschaft. In den bescheidenen Lebensverhältnissen wählten vor dem Ersten Weltkrieg 42 Prozent der Mössingen SPD. In der Weimarer Republik wurde die KPD zur dominierenden Partei im Dorf (etwa 25 Prozent bei den Reichstagswahlen). Die drei Arbeitervereine (Turner, Radfahrer und Sänger) prägten eine linke Arbeiterkultur rundum die 1925 erbaute Turnhalle in der Langen Gasse.

Mössinger Generalstreik: Die Turnhalle war am 31. Januar 1933 der Ausgangspunkt für den berühmten »Mössinger Generalstreik« gegen die am Vortag erfolgte Machtübernahme Hitlers. Die KPD hatte reichsweit zum Streik aufgerufen, doch es blieb weitestgehend ruhig. In Mössingen demonstrierten dagegen 800 Personen und versuchten die drei großen Textilfabriken lahmzulegen. In der Firma Pausa stimmten die Arbeiter für den Streik. Die jüdischen Firmeneigentümer Löwenstein gaben den Beschäftigten frei und unterstützten die Aktion. Im zweiten Betrieb, der Trikotagefabrik Merz, in den die Streikenden eindrangen und zur Teilnahme aufriefen, alarmierte der Unternehmer Merz die Polizei. Bei der Buntweberei Burkhardt standen die Streikenden vor verschlossenen Türen. Beim Rückmarsch in den Ort wurde der Streikzug von Reutlinger Polizei aufgelöst. 80 Personen wurden wegen Hochverrats und Landfriedensbruch zu Strafen von drei Monaten bis viereinhalb Jahren verurteilt. Das NS-Regime war nicht aufzuhalten. 1936 wurde der von den jüdischen Löwensteins geführte Textilbetrieb Pausa »zwangsarisiert«. Die Familien Löwenstein flohen nach England.

Foto: Pr Public Relations
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Bauboom und Wirtschaftsaufschwung: Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das 4.500 Einwohner zählende Mössingen durch den Zuzug von knapp 900 Flüchtlingen und Vertriebenen sprunghaft an. Neue Wohngebiete wie etwa das ab 1960 gebaute Bästenhardt entstanden. Auch die Textilwirtschaft boomte. Neben den Firmen Merz, Pausa und Burkhardt produzierten seit 1938 die Firma Mehl Frottierwaren, die Firma Wagner in Belsen Sportbekleidung und seit 1946 die in Öschingen gegründete und ab 1959 in Mössingen ansässige Firma Merk Hemden und Berufsbekleidung. Vor allem die Pausa mit dem Verkaufsprodukt an modernen Dekorationsstoffen stand für die »goldenen Fünfziger«. Der seit Mitte der 1930er-Jahre als künstlerischer Leiter tätige Willy Häussler wurde 1958 der neue Firmenchef. Seine Verbindungen zu erstklassigen Künstlern und Entwerfern wie Willi Baumeister, HAP Grieshaber, Elsbeth Kupferoth, Walter Matysiak und Leo Wollner ließen die Firma an die Erfolge der Löwensteins anknüpfen. Auch Talente wie Andreas Felger, der als 14-jähriger Lehrling zur Pausa kam, wurden von ihm entdeckt und gefördert. In den 1960er-Jahren zählte die Pausa 600 Beschäftigte. Für den Firmenneubau (1951– 1961) gewann Häussler den später berühmten Architekten Manfred Lehmbruck.

Schulzentrum: Mössingen entwickelte sich zum Schulzentrum für alle Schularten. Architekt Manfred Lehmbruck baute 1954 die Gottlieb-Rühle-Schule und 1967 die Friedrich-List-Realschule (heute: Gemeinschaftsschule). 1965 nahm das Evangelische Aufbaugymnasium für Südwürttemberg (heute: Firstwald-Gymnasium) seinen Betrieb auf. 1973 wurde das Quenstedt-Gymnasium eingeweiht. Daneben bestand bereits seit 1971 die Flattichschule für lernbehinderte Kinder (heute: Steinlachschule). Südlich der »Breite« im Gewann Rosenbenz entstand in den 1970er-Jahren die Körperbehindertenförderung (KBF) mit der 1975 eingerichteten Körperbehindertenschule (KBS), heute Dreifürstensteinschule.

Eingemeindungen und Stadterhebung: Im Zuge der Gemeindereform wurden 1971 Talheim und Öschingen eingemeindet. Obwohl in beiden Orten die Bürger mehrheitlich (Talheim 57 Prozent, Öschingen 56 Prozent) eine Eingliederung ablehnten, entschied sich der jeweilige Gemeinderat dafür. Eine unechte Teilortswahl sicherte den jeweiligen Ortschaftsräten ein überproportionales Mitspracherecht in der Gesamtgemeinde. Mit den Gemeinden Ofterdingen und Bodelshausen wurde eine Verwaltungsgemeinschaft vereinbart. Im Mai 1974 entschied der baden-württembergische Ministerrat aufgrund des »städtischen Gepräges« Mössingen zum 1. Januar 1974 mit seinen inzwischen 13.585 Einwohnern zur Stadt zu erheben. 

Jahrhundertereignis Bergrutsch: Am 12. April 1983 rutschten nach mehreren Tagen Regen am Steilhang des Hirschkopfes vier Millionen Kubikmeter Gestein ins Tal. Bis zum Ende des Monats vergrößerte sich das Geröllfeld von 25 Hektar auf das Doppelte. Der Mössinger Bergrutsch gehört damit zu den größten Bergrutschen in Baden-Württemberg innerhalb von mehr als hundert Jahren. In der entstandenen Steinwüste erholte sich die Natur sehr rasch und vielfältig. Für viele Tiere und Pflanzen eröffnete sich ein neuer Lebensraum. 2006 wurde dem Mössinger Bergrutsch das Prädikat »Nationaler Geotop« verliehen. Er gehört seit 2016 zum »UNESCO Geopark Schwäbische Alb«.

Strukturwandel und Neugestaltung: In den 1980er-Jahren setzte der allgemeine Niedergang der Textilindustrie ein. Erste Firmen wie die Frottierweberei Mehl mussten schließen. Mit der Firma Merz – seit den 1970er-Jahren mit dem Label »Grasshoppers« international bekannt – verschwand 1992 eines der größten Textilunternehmen am Ort. Als eine der letzten Produktionen schloss 2004 die Pausa. Damit waren Hunderte Arbeitsplätze in der Textilindustrie verloren gegangen. Die Industriebrachen des Merz-Areals und des Pausa-Quartiers brachten Leerstände mitten in der Stadt. Auf dem ehemaligen Merz-Areal entstanden in den folgenden Jahrzehnten Wohnbebauungen, ein Gesundheitszentrum und neue Geschäftsflächen. Der Neubau der Kreissparkassen-Regionaldirektion flankiert seit 2020 den neuen Marktplatz an der Ecke Falltor-/Bahnhofstraße. 

Pausa-Quartier: Das seit 2004 im Eigentum der Stadt befindliche Pausa-Quartier steht seit 2005 unter Denkmalschutz und ist sowohl Chance als auch Herausforderung. Ein großer Teil ist noch nicht saniert. Seit 2011 dient die renovierte Pausa-Tonnenhalle der Stadtbücherei, der Diakonie Sozialstation und dem Regionalverband. Außerdem finden hier regelmäßig Ausstellungen zum Thema Pausa und Textil statt. Als wahrer Schatz zeigte sich nämlich die umfangreiche Stoffmuster-Sammlung der Firma mit 88.000 Textilmustern, 13.500 grafischen Entwürfen sowie über 700 Musterbüchern aus acht Jahrzehnten. Die Sammlung soll die Grundlage für ein zukünftiges Pausa-Museum sein. Für Belebung des Quartiers sorgen zudem das 2018 eröffnete Café Pausa und das Streuobst-Informationszentrum.

Mössingen heute: Mössingen bietet im 1.250sten Jahr seiner Erstnennung und als 50-jährige Stadt ein lebenswertes Umfeld: eine malerische Lage am Fuße der Alb umrahmt von Streuobstwiesen und Wanderwegen, alle Schularten, ein umfassendes Vereinsleben, Sport- und Freizeiteinrichtungen (Hallenbad, zwei Freibäder), vier Museen (Holzschnittmuseum, Kulturscheune, Rechenmacherhaus, Messerschmiede) und Ausstellungsflächen mit regelmäßigen Ausstellungen (Pausa-Tonnenhalle, Gesundheitszentrum Mössingen), den jährlichen Rosenmarkt am Sonntag, 23, Juni sowie den »Kulturherbst« in Kooperation mit dem Theater Lindenhof. (pr)