GEA: Sie liegen schon seit Jahren mit den Behörden im Clinch. Warum tun Sie sich das an? Dagmar Neubronner: Weil es unseren Kindern zu Hause so wunderbar gut geht, und weil wir sehen, wie toll sie gedeihen und wie sie zu kraftvollen, fröhlichen, selbstbewussten und eigenständigen Menschen heranwachsen. Ursprünglich wollten wir nur den Druck von ihnen nehmen. Wir hatten nicht vor, uns gegen Behörden zu stellen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kinder auch freiwillig lernen. Neubronner: Niemand wundert sich darüber, dass Kinder in den ersten Lebensjahren ganz viel lernen: zu sitzen, zu stehen, zu laufen, sich anzuziehen, sich ein Butterbrot zu machen, Fahrrad zu fahren. Sie lernen sogar mehrere Sprachen. Diese Lernleistung passiert ohne Unterricht und ohne Leistungsdruck. Einfach nur, weil sie es wollen. Die Kinder kommen ja extra hierher, um Teil unserer Gesellschaft zu sein, um etwas zu bewegen und sich einzubringen. Erst, wenn sie in ein System hineinkommen, in dem es zur Pflicht wird, in dem sie nicht mehr ihren eigenen Impulsen folgen können, verweigern sie das Lernen. Ich vergleiche das mit einem Baum, der auch aus sich heraus seine Äste und Blätter entwickeln will, der wachsen will. Wenn er dann in einer Baumschule steht und man ihm Montagmorgen um neun Uhr sagt: »So, jetzt bilden wir mal alle am zweiten Ast oben links ein neues Blatt«, und er aber gerade damit beschäftigt ist, ganz woanders ein Blatt zu treiben, funktioniert das zwar auch, nur sehr viel langsamer und mühsamer.
Wie gestalten Sie zu Hause den Unterricht?
Neubronner: Es gibt keinen Unterricht. Wir haben das am Anfang versucht, weil wir dachten, das muss so sein. Und haben dann aber gemerkt, dass die Kinder dabei die gleichen glasigen Augen bekommen haben wie in der Schule. Sie haben angefangen, unruhig hin und her zu rutschen und sich Zettelchen zu schreiben und Blödsinn zu machen.
Wie lernen Ihre Kinder dann?
Neubronner: Inzwischen erledigen sie die Sachen, die sie sich vorgenommen haben, gleich morgens. Die ersten Punkte sogar oft noch im Bett. Sie lernen nur wenige Stunden am Tag akademisch, danach haben sie so gut wie den ganzen Tag frei, spielen Instrumente, sind im Sportverein, machen sonst was. Sobald sie bei Aufgaben Probleme haben, rufen sie meinen Mann oder mich. Dann fuchsen wir uns gemeinsam in die Aufgabe, was auch für uns nicht immer einfach ist. Außerdem verbringen wir, dadurch, dass wir alle zu Hause arbeiten, sehr viel Zeit miteinander. Wir haben gemütliche lange Mahlzeiten, unterhalten uns viel, und in diesen Gesprächen entstehen oft auch Themen, über die wir intensiv miteinander reden. Das sind alles Wissensbröckchen, die nicht zufällig sind, sondern die in diesem Moment dran sind. Deshalb bleiben sie hängen und ergeben ein sinnvolles Ganzes.
Und die Kinder sind bereit, von Ihnen Wissen anzunehmen?
Neubronner: Meistens. Auch uns passiert es immer wieder, dass wir ins Dozieren kommen, weil ein kleines Teufelchen in uns sagt: "Das ist doch jetzt mal eine gute Gelegenheit, ihnen ein wenig Schulwissen unterzujubeln." In diesen Momenten, in denen es kein echtes Gespräch mehr ist, blocken sie ab. Auf diese Weise lehren sie uns, bei uns zu bleiben und diese Kostbarkeit der gemeinsamen Gespräche nicht zu zerstören.
Das ist sehr friedvoll.
Neubronner: Ich sage Ihnen, wieso: Die meisten Eltern machen ja Homeschooling - zusätzlich zur Schule, um auf die nächste Arbeit zu lernen, oder Stoff nachzuholen. All der Druck und der damit verbundene Stress entfallen bei uns. Dafür sind wir unendlich dankbar. Mit diesem "Du musst aber noch lernen" wird die Schule bei vielen Familien zum großen Stressthema. Das bleibt uns erspart.
Okay, es leuchtet mir ein, dass Kinder freiwillig lernen. Die Frage ist, was? Es gibt doch Dinge, die machen keinen Spaß, sind aber dennoch wichtig.
Neubronner: Die Kinder sind da selbst darauf gekommen, einfach weil sie mit ihren Freunden und Fußballkameraden mithalten wollen. "Ich will nicht als Doofmann dastehen, ich will den Stand meines Jahrgangs haben", hat Moritz, der Ältere, gesagt. Also haben wir entsprechende Bücher und Lernsoftware gekauft. Ein paar Monate später kam er wieder und sagte: "Mama, ich schaff’ das nicht allein. Du musst mich zwingen." Ich sagte: "Zwingen tue ich dich natürlich nicht. Aber ich kann dich jeden Tag dran erinnern und dir helfen, dich hinzusetzen." Es gab dann eine Phase von einigen Monaten, wo es morgens Gequengel gab, wenn ich ihn daran erinnerte. Aber da es sein eigener Wunsch war, musste ich keinen Druck ausüben.
Schule ist doch auch eine Kontrollinstanz. Ich denke da an den christlichen Fundamentalismus in den USA. Der macht mir Angst.
Neubronner: Mir auch. Aber das hat nichts mit Bildungsfreiheit zu tun. Denn in den USA muss man einen Grund fürs Homeschooling angeben. Und da geben eben 40 Prozent religiöse Motive an, weil das am einfachsten ist. Ich glaube, die wirklichen Fundamentalisten überlassen die Indoktrinierung ihrer Jugend nicht irgendwelchen Muttis zu Hause am Küchentisch. Das wäre ihnen viel zu individuell und unzuverlässig.
Das überzeugt mich nicht.
Neubronner: Schauen Sie sich doch um. Sie müssen gar nicht so weit gehen: In nahezu allen angrenzenden Ländern, auch in Nordamerika, Australien oder Südafrika ist Homeschooling erlaubt. Und dort entstehen nicht scharenweise Homeschool-Sekten. Denn dort müssen meistens bestimmte Formalien erfüllt sein. Man muss sich abmelden, Lernjournale führen oder sich bei einer Schirmschule anmelden. In Österreich etwa muss man die Kinder einmal im Jahr staatlich prüfen lassen. Außerdem zeigt sich in allen Ländern, dass es nur wenige sind, die das Angebot annehmen. Wie viele es sind, hängt von der Güte des Schulsystems ab. Je schlechter das Schulsystem, desto mehr Homeschooler nehmen das auf sich.
Haben Sie nicht manchmal Angst um Ihre Kinder?
Neubronner: Inzwischen bin ich damit durch. Am Anfang haben wir uns natürlich sehr große Sorgen gemacht. Wir haben uns gefragt: "Was tun wir unseren Kindern an?" "Erziehen wir sie zu Sonderlingen?", "Werden Sie jemals ...?" Inzwischen sehe ich, wie locker sie mit dem Schulwissen mithalten. Außerdem gibt es Untersuchungen aus den USA, wo Homeschooler nachweislich supergut klarkommen: Sie sind öfter beruflich selbstständig. Sie gehen öfter wählen, sind sozial engagierter, und zeigen sich bei Befragungen zufriedener als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Warum, glauben Sie, ist das so?
Neubronner: Ich glaube, das ist deswegen so, weil wir als Menschen dazu geboren sind, uns selber zu verwirklichen. Unsere eigenen Gedanken zu denken und unseren eigenen Zielen zu folgen. Uns einzubringen als eigenständige, einzigartige Wesen in die Gesellschaft. Wenn wir das tun, sind wir zufrieden.
Haben Sie irgendeine Idee, warum gerade Ihnen das passiert ist?
Neubronner: Ich glaube, es ist uns passiert, weil wir gesehen haben, wie sich Moritz selbst in der Schule, die wir extra gegründet haben, verändert hat. Wie er seine Lebenslust verloren hat. Und weil wir im Gegensatz zu den allermeisten anderen Deutschen wussten, dass Homeschooling überall sonst in Europa erlaubt ist. Außerdem haben wir Homeschool-Kinder kennengelernt, die reden konnten, die schreiben konnten und die auch nicht im Lendenschurz über die Bäume kletterten, sondern ganz normal aussahen, nur ein wenig offener und interessierter waren. Und noch etwas: Es passiert ja nicht nur uns. Mittlerweile wissen wir, dass sehr viele Familien diesen Weg gehen, nur sind die meisten klug genug, das nicht an die große Glocke zu hängen. Viele Eltern gerade aus bildungsnahen Schichten planen einen Auslandsaufenthalt ein, wenn die Kinder ins Schulalter kommen. Manche verlegen auch ihren Wohnsitz über die Grenze, arbeiten aber weiterhin hier.
Ist der Weg, den Sie eingeschlagen haben, schwer für Sie?
Neubronner: Schlimm waren und sind die vielen, vielen Ängste in Zusammenhang mit behördlicher Verfolgung. Denn für Eltern ist es wohl das Schlimmste, wenn das Sorgerecht eingeschränkt wird oder die Kinder einem entzogen werden. Da liegt man nachts wach und hat Horrorfantasien. Inzwischen haben wir uns mit der Auslandslösung arrangiert. Wenngleich das ewige Pendeln nicht einfach ist. Der Weg ist schwer, aber eher vergleichbar mit einer spannenden Bergwanderung.
Wie ist es eigentlich, die Kinder immer im Haus zu haben?
Neubronner: Das werden wir oft gefragt. Für uns waren die Zeiten, in denen unsere Kinder in der Schule waren, viel anstrengender als heute. Da kamen sie erschöpft, genervt und bedürftig nach Hause und wir mussten sie mühsam päppeln. Kinder, die im Kindergarten oder in der Schule sind, sind zu Hause immens präsent mit ihren Kontakt- und Bindungsbedürfnissen. Unsere Kinder dagegen sind im Normalfall ruhig und zentriert und machen ihre eigenen Sachen. Sie sitzen uns nicht den ganzen Tag auf dem Schoß.
Das klingt herrlich entspannt.
Neubronner: (lacht) Ja, das ist es auch. Tut mir leid, Ihnen nichts anderes sagen zu können. Im Übrigen prüft Moritz gerade die Möglichkeiten, doch noch eine Schule mit Sportschwerpunkt zu besuchen. Aber er tut das aus einer Position der Freiheit heraus, und er macht es selber. Das wäre einerseits natürlich super, wenn er eine Schule finden würde, die zu ihm passt, und der Kleine irgendwann auch. Auf der anderen Seite wissen die Kinder aber: Es muss nicht sein. Das versetzt sie in eine Lage, die wirklich beneidenswert ist. Wir hatten und haben immer wieder Momente, in denen wir selber Schmerz und Trauer fühlen, weil wir sehen: "Hey, so könnte es auch sein. Und wie war’s bei uns?" Dann spüren wir diese Diskrepanz und das tut richtig weh. Weil wir denken: "Darf das denn sein, dass Kinder den ganzen Tag Spaß haben, und trotzdem lernen sie so viel? Und diese ganze Schinderei muss gar nicht sein?"
Haben Sie denn auch so viel Spaß im Leben?
Neubronner: (lacht) Ja, absolut! (GEA)
Literatur
Wie ein Leben ohne Schule aussehen kann, beschreibt Dagmar Neubronner in ihrem Buch "Die Freilerner", das in ihrem Verlag, dem Genius-Verlag, erschienen ist. Darin berichtet sie aus dem Alltag der Familie und druckt Tagebuch-Protokolle ab. Außerdem bietet sie viele Hintergrundinfos und Links. Das Buch kostet 19,80 Euro. (ski)