KREIS REUTLINGEN/TÜBINGEN. Eine bundesweite Diskussion kreist seit Wochen um die Bundesjugendspiele. Sollen sie abgeschafft werden? Soll Leistung im Schulsport noch eine Rolle spielen? Sind Bundesjugendspiele noch zeitgemäß?
Der Hintergrund: 2015 hatte eine Mutter von drei Kindern am Bodensee die Diskussion mit einer Petition zum Schulsportwettbewerb ins Rollen gebracht. »Die Bundesjugendspiele demotivieren Schüler und setzen sie unter sozialen Druck«, war die Hauptkritik, die viele Reaktionen hervorrief. Während die einen diese Kritik als »grün-rote Leistungsverweigerung« abtun, hat sich auf der anderen Seite eine große Mehrheit zur Bedeutung der Leistung in unserer Gesellschaft geäußert.
»Leisten, Anstrengen, Durchhalten sind gesellschaftliche Notwendigkeiten«
Leisten, anstrengen, durchhalten: »Das Leistungsprinzip hat in unserer Gesellschaft eine grundlegende Bedeutung«, sagt der ehemalige Tübinger Sportwissenschaftler Professor Helmut Digel. Der Leistungsvergleich sei im Sport immanent und sofort transparent. »Wer dies als Diskriminierung bezeichnet, hat das Prinzip unserer Leistungsgesellschaft nicht verstanden«, sagt Digel.
»Leisten, Anstrengen, Durchhalten sind gesellschaftliche Notwendigkeiten«, meint Gymnasialprofessor Hansjörg Kofink (Rottenburg), ehemaliger Gymnasialprofessor am Reutlinger List-Gymnasium und viele Jahre in der Sportlehrerausbildung tätig. Fehlende Sportfachkräfte in den Grundschulen, die schlechte motorische Situation als Folge des Bewegungsmangels bei Kindern und Jugendlichen seien wichtige Hintergründe. Die durchschnittlich 344 Minuten tägliche Verweilzeit in den elektronischen Medien sind nach einer jüngsten Studie alarmierende Signale zum motorischen Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen.

Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) hat bereits in den 90er-Jahren die Konzeption einer »neuen« Kinder-Leichtathletik für Schulen und Vereine erstellt. Hans Katzenbogner (Freising), Fred Eberle (Schwäbisch Gmünd) und Günter Frey (Tübingen) sind die »Väter« dieser pädagogisch begründeten Konzeption.
Das neue Wettkampfsystem (»Wettbewerb«) beinhaltet neue Inhalte und neue Geräte. »Kinder wollen sich messen, wollen Erste sein«, weist Eberle auf leistungsimmanente Gedanken hin. Im Vordergrund stehen dabei Vielseitigkeit, Altersgemäßheit und Innovation mit neuen Bewegungsformen und Geräten. Die neuen Inhalte sind beispielsweise Hindernissprint, Drehwürfe, Medizinball-Stoßen, Hoch-Weitsprung oder Zonen-Weitsprung. Dazu gibt es attraktive neue Geräte wie den Flatterball, Wurf-Stab, Bananenkisten, Kunststoff-Blocks oder Fahrradreifen. Leichtathletik als Erlebnis und weniger als Ergebnis heißt hier die Devise.
»Kinder-Leichtathletik soll kein Abbild der Erwachsenen- Leichtathletik sein«
»Die Kinder-Leichtathletik will keine Wettkämpfe abschaffen, sondern die Voraussetzungen für den Weg dorthin erreichen«, sagt Eberle, der als Lehrer am pädagogischen Fachseminar in Schwäbisch Gmünd tätig war und das »pädagogische Gewissen« der deutschen Leichtathletik verkörpert. Die Philosophie hinter der Neuorientierung ist klar: »Kinder-Leichtathletik soll kein Abbild der Erwachsenen-Leichtathletik sein«, wie es Dominic Ullrich (Frankfurt), im DLV für den Kinder- und Jugendsport zuständiger Vize-Präsident, formuliert.
Der Reformbedarf für die Bundesjugendspiele ist da und erkannt, die Frage der Umsetzung liegt an den Schulen und den (Sport-)Lehrerrinnen und Lehrern. Der große Mangel an Sportfachkräften in den Grundschulen ist dafür allerdings nicht förderlich. Auch noch so erlebnisreiche Bundesjugendspiel-Feste können die jahrzehntelang propagierte aber nie umgesetzte tägliche Sportstunde für Kinder nicht ersetzen.
Was machen die Schulen in der Region? »Wir werden unser bewährtes Programm mit einem Orientierungslauf für die Fünftklässler, den traditionellen Bundesjugendspielen für die Klassen sechs und die Winter-Bundesjugendspiele im Geräteturnen für die Siebtklässler fortsetzen«, sagt Christine Seidemann, die für die Fachschaft Sport im HAP-Grieshaber-Gymnasium in Rommelsbach zuständig ist.
»Im Sport geht es darum, die eigenen Grenzen kennenzulernen und über sich hinauszuwachsen«
»Im Sport geht es darum, die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu erweitern, auch mal über sich hinauszuwachsen«, sagt Melanie Keiß, Leiterin der Sportfachschaft an der Reutlinger Jos Weiß-Schule. »Manche Kinder schöpfen diese aus dem Wettkampf, andere aus dem besonderen Event, wieder andere aus dem Wissen, dass gute Leistung belohnt wird.« Man möchte im Laufe des Schuljahres möglichst viele verschiedene Gelegenheiten für die rund 260 Schülerinnen und Schüler bieten, über sich hinauszuwachsen und stolz auf sich sein zu können. »Und eine davon wird die neue Variante der Bundesjugendspiele sein«, sagt Keiß.
Die Aischbachschule in der Tübinger Weststadt hat jährlich ein vielfältiges Programm im Angebot. »Wir organisieren für unsere Schülerinnen und Schüler nicht die klassischen Bundesjugendspiele, sondern einen Sporttag mit teamorientierten Inhalten«, sagt Schulleiter Claus Sieghörtner. Mit den im Sport talentierten Schülern nehmen die Sportlehrerinnen und Sportlehrer an zahlreichen Wettbewerben teil: Beim Tübinger Stadtlauf, Jugend trainiert für Olympia in der Leichtathletik in Pliezhausen und im Schwimmen, der Basketball-Grundschul-Liga sowie Fußball- und Volleyball-Turnieren.
»Wir wollen dabei wie bei den traditionellen Bundesjugendspielen den Leistungsgedanken fördern«, nennt der ehemalige Basketball-Bundesligaspieler bei Ludwigsburg und den Tigers Tübingen die pädagogische Philosophie dieser sportaffinen Schule.
Carolina Krafzik (Sindelfingen), fünffache deutsche Meisterin über 400 Meter Hürden, die gerade von den Leichtathletik-Weltmeisterschaften aus Budapest zurück ist, hat eine klare Position. Sie ist Grundschullehrerin in Wiernsbach (bei Pforzheim) und hat direkt vor der WM die »neuen« Bundesjugendspiele für 300 Schülerinnen und Schüler organisiert und durchgeführt. »Alle Beteiligten waren begeistert über die Vielfalt der Inhalte, und Leistung wird auch hier abgerufen!«, sagt die 28-jährige Sportlehrerin. Ein Vorteil sei die Unabhängigkeit von normierten Sportstätten wie Stadien oder Laufbahnen, da die Wettbewerbe auf fast jedem freien Gelände durchzuführen sind. (GEA)