STUTTGART. Die Geschichte hätte anders enden sollen. Das Fleisch lag bereits auf dem Grill. Doch am Ende war es wieder einmal eine verpasste Chance für den VfB Stuttgart, die Patzer der Konkurrenz für sich zu nutzen und zurück auf die Champions-League-Plätze zu springen. Gegen den VfL Wolfsburg setzte es beim 1:2 (0:0) bereits die dritte Heimniederlage in der Bundesliga seit Ende Dezember. Was sich am Samstagmittag in der Schlussphase der Stuttgarter MHP-Arena abspielte, kam dem Begriff unnötig ziemlich nahe.
»So reif wir letzte Woche aufgetreten sind, so unreif war es zumindest für 18 Minuten«, kritisierte VfB-Trainer Sebastian Hoeneß. Dass er nach der Partie überhaupt niedergeschlagen auf der Pressekonferenz saß, davon war lange Zeit nicht auszugehen. Denn die Geschichte hätte bekanntlich anders enden sollen. In der Hauptrolle vorgesehen: Nick Woltemade. Seit dem 1. Februar war der am Valentinstag 23 Jahre alt gewordene Stürmer krankheits- und spielberechtigungsbedingt nur vier Minuten für den VfB auf dem Platz gestanden und musste gegen Wolfsburg zunächst auf der Bank Platz nehmen. Doch der Reihe nach.
Enges Mittelfeld
Gerade einmal vier Pünktchen liegen nach 22 Spieltagen in der Bundesliga zwischen Platz neun und Champions-League-Rang vier. Zum Vergleich: In der Vorsaison betrug der Abstand zwischen diesen Rängen zum selben Zeitpunkt ganze 14 Punkte. 2022/23 waren es 12 Zähler. (ott)
Wie bereits in der Vorwoche beim 2:1-Auswärtserfolg gegen den BVB wählte Erfolgscoach Hoeneß erneut eine pragmatische und passivere Herangehensweise. Da der 42-Jährige genau wusste, über welche pfeilschnellen Waffen die Wolfsburger in der Sturmspitze mit Topscorer Mohamed Amoura und Tiago Tomas verfügen. Man wollte gegen diese »Top-Speed-Spieler« nicht ins offene Messer laufen. Und der Hoeneß-Plan ging 77 Minuten defensiv in Perfektion auf. Der VW-Club gab keinen einzigen Torschuss auf das Gehäuse von VfB-Keeper Alexander Nübel ab. Das Problem: Fast das Gleiche traf auf die Schwaben zu.
Die offensive Durchschlagskraft fehlte komplett. Allen voran Deniz Undav und Jamie Leweling blieben erneut wirkungslos. Die Formkurve der beiden zeigt in den vergangenen Wochen nach unten. Ja, Angreifer Undav zeichnet sich immer wieder für wichtige Treffer verantwortlich, doch der 28-Jährige ist längst nicht mehr so ins Kombinationsspiel eingebunden wie in der Vizemeister-Saison. Am deutschen Nationalspieler laufen die Partien immer häufiger vorbei. Das kann sich der VfB nicht leisten. Deshalb folgerichtig seine Auswechslung nach 70 Minuten. Und darum die Einwechslung von eben jenem Woltemade.
Woltemade in Messi-Manier
Weil auch Hoeneß weiß: Der baumlange Norddeutsche ist aktuell der Unterschiedsspieler in der mächtig ins Stottern geratenen Stuttgarter Offensive. Weil der technisch so beschlagene Sommerzugang seinen Mitspielern etwas Entscheidendes voraus hat. Woltemade macht unvorhersehbare Dinge, verliert kaum Bälle, ist immer anspielbar und für seine Gegenspieler aufgrund seiner Größe von 1,98 Metern selten zu greifen. Nur zwei Minuten, nachdem er ins Spiel kam, bestätigte der 23-Jährige seinen Coach. Und wie! Mit einem Wahnsinns-Solo, das Lionel Messi nicht besser hätte ausführen können, ließ der Angreifer die gesamte Hintermannschaft stehen und erzielte die Führung im Alleingang. Das war Weltklasse. Der Senkrechtstarter war mal wieder der gefeierte Held. Wie zu diesem Zeitpunkt auch Trainer Hoeneß mit seinem Matchplan.
Aber nur für kurze Zeit. Spätestens nach 77 Minuten wurde der Coach bestätigt, vor gegen diesen als Umschaltmonster bekannten Gegner mächtig Respekt gehabt zu haben. Ein Ballverlust von Justin Diehl im vorderen Drittel nutzten die Wolfsburger für einen ihrer ligaweit gefürchteten blitzschnellen Gegenangriffe. Am Ende der Verwertungskette stand - wie das im Fußball häufig der Fall ist - ausgerechnet der Ex-VfBler Tomas und vollendete mit dem ersten Torschuss der Gäste eiskalt zum 1:1. Und nun? Erinnerten sich die Stuttgarter an die Worte ihres Coaches? »Sich auch mal mit einem Unentschieden zufrieden zu geben«, wie Hoeneß nach der späten 1:2-Heimniederlage gegen Borussia Mönchengladbach vor zwei Wochen forderte. Ja, danach sah es jedenfalls aus. Keine der beiden Mannschaften spielte in den Schlussminuten auf Sieg.
Die MHP-Arena ist keine Heimfestung mehr
Umso bitterer und grotesker war es, dass VfB-Verteidiger Josha Vagnoman bei einem harmlosen Schuss von Patrick Wimmer, der »ansonsten 15 Meter übers Tor geht«, wie Woltemade anführte, seine rechte Hand reflexartig nach oben riss. Schiedsrichter Tobias Welz hatte keine Wahl: Er musste auf den Elfmeterpunkt zeigen. Amoura schob die Kugel nach 87 Minuten in die rechte Ecke zum 2:1-Endstand.
Es wurde mucksmäuschenstill in Bad Cannstatt. Fußball ist ein knallharter Ergebnissport. »Aufgrund der Reaktion, die wir gezeigt haben und auch wegen der ersten Halbzeit«, sagte Wolfsburg-Coach Ralph Hasenhüttl, überlegte lange und meinte dann: »War es nicht so ganz unverdient.« Die Analyse des Österreichers kam fast einer Entschuldigung gleich. »Wenn du so kurz vor Schluss in einem Heimspiel in Führung gehst, musst du es über die Zeit bringen«, fasste der Fast-Matchwinner Woltemade das Spielgeschehen zusammen und ergänzte mit betröppelter Miene: »Das ist sehr bitter.« Verpasste Chance im Kampf um die Champions League hin oder her. Die MHP-Arena ist keine Heimfestung mehr. Vier Niederlagen und zwei Remis in zwölf Heimpartien sind zu viel. Das sollte zu denken geben. (GEA)