STUTTGART. Den wartenden und selbstverständlich immer alles besser wissenden Sportjournalisten - natürlich ist genau das Gegenteil der Fall - Rede und Antwort zu stehen, ist für die Bundesliga-Profis in etwa so wie eine gängige Gebrauchsanweisung für den Otto-Normalbürger: Braucht man nicht wirklich für sein persönliches Lebensglück, gehört aber dennoch irgendwie dazu. Was übersetzt ungefähr so viel bedeutet wie: Für die schreibende Berufszunft dieser Republik ist es stets ein Highlight, wenn sich ein Spieler nach einer Partie in der Mixed Zone ausreichend Zeit für sie und ihre schlauen Fragen nimmt.
Den vermeintlichen Jackpot wittern Journalisten vor allem dann, wenn sie das Gefühl haben, dass da ein Profi vor ihnen steht, der gerade einmal nicht von einem Teleprompter abliest oder durch ein Kopfhörer im Ohr ferngesteuert wird. Echte Typen, so erzählt man sich, seien rar geworden im Milliardengeschäft Fußball. Jeder Satz ist oftmals mit Bedacht gewählt. Bloß nichts falsches sagen, was möglicherweise aus dem Zusammenhang gerissen werden und auf Instagram und Co. viral gehen könnte. Ja, das ist eine fast schon gemeine Pauschalisierung. Glücklicherweise trifft das jedoch nicht auf jeden Fußballer zu.
Zweiter Elfmeter in dieser Saison verschossen
Ein Paradebeispiel dafür lieferte VfB Stuttgarts Ermedin Demirovic am Sonntagabend. Der 26-Jährige wurde mit einem verschossenen Elfmeter - seine bereits zweite Fahrkarte vom Punkt in dieser Saison - und zwei Lattentreffern zur tragischen Figur beim Kracherduell und der aufgrund des deutlichen Chancenübergewichts unverdienten 2:3-Niederlage des Vizemeisters gegen Eintracht Frankfurt. Der bosnische Nationalspieler und 21 Millionen Euro schwere Sommerzugang des VfB hätte sich in der MHP-Arena sicherlich aus einem Hinterausgang schleichen können oder beim Gang durch die Mixed Zone so tun können, als würde er mit einem Telefonat - das soll es auch schon gegeben haben - gerade die politische Lage in Berlin wieder ins Gleichgewicht bringen. Aber nein: Demirovic, der als Mann der klaren Worte in Hamburg das Licht der Welt erblickte, stellte sich in dieser für ihn unbequemen Situation den neugierigen Journalisten und lieferte einen bemerkenswert ehrlichen Auftritt ab.
Ob er nach dieser intensiven Partie schwere Beine habe, lautete die Einstiegsfrage. »Nein, einen schweren Kopf habe ich nach so einem Spiel«, entgegnete der Angreifer schlagfertig und ergänzte direkt hinterher: »Ich bin leer und habe wahrscheinlich noch ein, zwei Nächte damit zu kämpfen.« Demirovic beließ es nicht dabei und ging wenige Augenblicke später dann noch härter mit sich selbst ins Gericht: »An einem guten Tag machen wir wahrscheinlich fünf bis sechs Tore und ich vielleicht einen Hattrick. Aber ich glaube heute hätte ich vor dem leeren Tor stehen können und hätte den Ball nicht reingehauen.« Wumms. Man wollte den 26-Jährigen, der im Nachgang des Spiels auf der Plattform X teils harte Kritik einstecken musste, fast schon in den Arm nehmen und trösten. Dieser Aufgabe hatten sich jedoch längst schon seine Mitspieler angenommen.
Woltemade tröstet Demirovic im Whirlpool
»Wir saßen gerade noch zur Regeneration im Whirlpool und ich meinte zu ihm: Bitte Demi nimm für dich mit, dass du ein gutes Spiel gemacht hast. Klar wird ein Stürmer an Toren gemessen, aber er hat so viele gute Dinge auf dem Feld gemacht, die nicht jeder Außenstehende sieht«, berichtete Sturmkollege Nick Woltemade, der gegen Frankfurt sein erstes Bundesliga-Tor im Stuttgarter Dress erzielte. »Das ist natürlich sehr schön, wenn die Mitspieler zu einem kommen und einen aufbauen«, bedankte sich Demirovic indirekt bei seinem Mitspieler. Eine nette Anekdote, die gleichzeitig sinnbildlich für das gesamte Stuttgarter Team steht.
Dass eine Mannschaft, die bis zur 86. Minute mit 0:3 in Rückstand liegt, überhaupt noch dazu in der Lage ist den vermeintlichen Ausgleichstreffer gegen einen extrem formstarken Gegner zu erzielen, verdient ein fettes Ausrufezeichen. »Ich habe eine Mannschaft gesehen, die ohne Ende gefightet hat«, lobte Trainer Sebastian Hoeneß die tadellose Moral seiner Mannen. Die Einstellung und Mentalität stimmt sowas von. Doch das Kernproblem bleibt auch vor der bereits dritten Länderspielpause dieser noch jungen Saison bestehen: Der VfB schmeißt - bis auf die Auswärtspartien in München und Leverkusen - leichtfertig mit seinen stets zahlreich vorhandenen Torchancen um sich. Dazu braucht es keine klugscheißenden Journalisten. Das weiß vor allem einer wie kein Zweiter: Ermedin Demirovic. (GEA)