STUTTGART. Manchmal wird auf einen Schlag klar, wie bedeutungslos Fußball doch ist. Wie witzlos Pfiffe und Buh-Rufe sind, wenn sich der gegnerische Torwart bei der Ausführung des Abstoßes mal wieder zu viel Zeit lässt. Oder wie albern es ist, wenn der Schiedsrichter einen Zupfer am Trikot auf Höhe der Mittellinie übersieht und von einem ganzen Stadion niedergeschrien und zum Feinbild erklärt wird. Ja, der Fußball verbindet Millionen von Menschen über den gesamten Globus und sorgt für Gefühlsausbrüche und Emotionen, von denen man nicht wusste, dass man sie im Körper trägt. Doch wenn's hart auf hart kommt, ist das alles egal. Dann zählt nur eines: die Gesundheit.
Als Schiedsrichter Felix Zwayer am Sonntagabend den Halbzeitpfiff ins weite Rund der MHP-Arena trillerte, da hatte Stuttgarts Flügelspieler Chris Führich wie zu seinen besten Zeiten gerade mit einem sehenswerten Weitschuss den 1:1-Ausgleich im Bundesliga-Duell gegen den 1. FSV Mainz 05 erzielt und sich nach schwachen letzten Monaten mit seinem ersten Saisontreffer endgültig aus der zweiten Reihe zurückgemeldet. So richtig wusste man allerdings nicht, ob man sich als VfB-Fan nun freuen darf oder nicht.
Schließlich war es zuvor ab der 17. Minute für fast eine halbe Stunde lang mucksmäuschenstill in Bad Cannstatt. Es war eine angsteinflößende Atmosphäre, die einen tragischen Grund hatte: Im Mainzer Fanblock hatte es einen medizinischen Notfall gegeben, es musste eine Person wiederbelebt werden.
Dieser Notfall überschattete den Fakt, dass VfB-Coach Sebastian Hoeneß dem Begriff Rotation nochmals eine ganz neue Dimension gegeben hat. Der 43-Jährige tauschte im Vergleich zum 0:1 am Donnerstag in der Europa League gegen Fenerbahce alle (!) zehn Feldspieler aus. Mutiger geht's nicht. Dieser Mann muss wirkliches Vertrauen in sein Personal haben. So stand Verteidiger Dan-Axel Zagadou nach rund eineinhalb Jahren - zum letzten Mal am 27. Januar 2024 - wieder in der Startelf. Auf der Bank nahmen dagegen Angelo Stiller und Atakan Karazor Platz. Dass gleich beide Akteure aus diesem lange Zeit unsprengbaren Duo auf der Sechser-Position zu Beginn zusehen mussten, daran kann man sich in Stuttgart nicht mehr erinnern.
Zurück zum ewigen Patienten Zagadou. So überraschend der 26-Jährige für viele zu Beginn auf dem Feld stand, so souverän und fehlerfrei spielte der Abwehrhüne auf. Es war, als wäre der Franzose nie weggewesen. Respekt vor dieser Leistung. Zagadou hatte einen Riesenanteil daran, dass die Mainzer nur ein einziges Mal wirklich gefährlich vor das Tor kamen und der VfB auch im vierten Spiel in Folge keinen Gegentreffer aus dem laufenden Spiel kassiert hat. Denn die 1:0-Führung für die Mainzer hatte Nationalspieler Nadiem Amiri vom Elfmeterpunkt erzielt, nachdem Zagadou zuvor Teamkollege Chema Andres aus kürzester Distanz an den Arm angeköpft hatte. Mit anderen Worten: Was um alles in der Welt soll der junge Spanier, der mit dem Rücken zu Zagadou stand, da machen?
Siegtorschütze Undav scherzt über sich selbst
Gäste-Keeper Robin Zentner sprach im Nachgang der Partie von einem »klassischen Unentschieden-Spiel«. Dass es dazu aber nicht kam und die Stuttgarter stattdessen einen 2:1 (1:1)-Arbeitssieg in einem »grandiosen Kampfspiel« feierten sei schlussendlich aber »verdient« gewesen, entgegnete VfB-Sportvorstand Fabian Wohlgemuth dem Schlussmann des Conference League-Teilnehmers. Damit hatte der Sportchef von der Mannschaft mit den klareren Gelegenheiten (neun zu zwei Schüsse aufs Tor) einen Punkt.
Beim Treffer zum 2:1-Endstand nach 80 Minuten hatten die Schwaben jedoch auch eine Menge Glück, dass die Mainzer Abwehr-Dreierkette einen langen Ball von Torwart Alexander Nübel komplett falsch einschätzte und durch die Mitte segeln ließ. Angreifer Deniz Undav zog zum Sprint an, lief den Verteidigern davon und überchippte Zentner lässig. »Ich wollte ihn erst durch die Beine spielen. Aber weil ich dumm bin, habe ich mich im letzten Moment umentschieden«, scherzte der Siegtorschütze. Kurios: Für VfB-Keeper Nübel war es bereits die zweite Torvorlage in dieser Saison.
Ein berauschendes Fußball-Fest war der Aufritt nicht
Zugegeben: Ein berauschendes Fußball-Fest war der Aufritt des DFB-Pokalsiegers nicht. Das war allerdings auch schwer gegen die extrem tiefstehenden Mainzer. »Das haben wir ehrlicherweise so nicht erwartet. Das war wirklich nicht einfach«, sagte Hoeneß und ergänzte mit Blick auf seine XXL-Rotation: »Wir haben uns dafür entschieden, eine frische Mannschaft auf den Platz zu bringen – und dafür wurden wir belohnt.«
Und zwar mit dem saisonübergreifend fünften Heimsieg in Serie, womit die Stuttgarter den dritten Tabellenplatz behaupten. Die MHP-Arena ist wieder eine Festung und der VfB brutal abgezockt. Keine schlechten Voraussetzungen vor dem Topspiel am kommenden Samstag bei RB Leipzig. Zuvor geht es aber am Mittwochabend in der 2. DFB-Pokalrunde weiter. Witzigerweise mit einem Auswärtsspiel in Mainz.
Der Club aus Rheinhessen gab auf seinem X-Kanal am Sonntag um 18.40 Uhr bekannt: »Es gibt vorsichtige Entwarnung. Der Fan ist nach Reanimation stabil und ist nun auf dem Weg ins Krankenhaus.« Es war die beste Nachricht des Tages. Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Mehr aber auch nicht. (GEA)


