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Aktuell Reportage

So feiern Reutlinger Fans den Pokalsieg des VfB Stuttgart

Der VfB Stuttgart gewinnt nach 28 Jahren wieder den DFB-Pokal. Der GEA hat den Reutlinger Fanclub Schwaben-Piranhas auf der Reise nach Berlin begleitet.

Auf dem Weg ins Olympiastadion: Die Schwaben-Piranhas aus Reutlingen bei der Hinfahrt zum großen Sehnsuchtsort Berlin.
Auf dem Weg ins Olympiastadion: Die Schwaben-Piranhas aus Reutlingen bei der Hinfahrt zum großen Sehnsuchtsort Berlin. Foto: Ott
Auf dem Weg ins Olympiastadion: Die Schwaben-Piranhas aus Reutlingen bei der Hinfahrt zum großen Sehnsuchtsort Berlin.
Foto: Ott

BERLIN. Freitagabend kurz vor Berlin. Dieser nervige Stau nur wenige Kilometer vor dem großen Sehnsuchtsort. Ein Meer an vertrauten Auto-Kennzeichen, die in Reih und Glied hintereinander auftauchen. Esslingen, Böblingen, Stuttgart. Kurz vor Schloss Charlottenburg dann sogar ein Wagen mit RT auf dem Nummernschild, der den Reisebus im Schritttempo auf der linken Spur überholt. Im Ländle wurde am Freitag nicht geschafft. Das Bruttoinlandsprodukt kann warten. Es gibt wichtigeres zu tun.

Das ganze Ländle hat sich auf den Weg gemacht, die Bundeshauptstadt über das Wochenende einzunehmen. Mit dabei auch der 2007 gegründete Reutlinger VfB-Fanclub Schwaben-Piranhas. Für insgesamt 43 Mitglieder startet die zehnstündige Fahrt ins Glück am Freitagmorgen um 7 Uhr beim Friedhof Unter den Linden. Ein Trip, der für die Anhänger der Roten durch den 3:1-Halbfinalerfolg gegen RB Leipzig zur Realität wurde. Ebenfalls an Bord des Fanbusses mit Stuttgarter Schlachtenbummlern auf ihrer einzigartigen Reise zum DFB-Pokalfinale: GEA-Sportredakteur Maximilian Ott.

Da ist das Ding: VfB-Coach Sebastian Hoeneß mit dem Pokal.
Da ist das Ding: VfB-Coach Sebastian Hoeneß mit dem Pokal. Foto: Murat/dpa
Da ist das Ding: VfB-Coach Sebastian Hoeneß mit dem Pokal.
Foto: Murat/dpa

Nervosität ist da in den Sitzreihen noch keine zu spüren. Die Erfolgsformel: Das Grande Finale werde 37 Stunden später ohnehin eine klare Sache werden, wenn die Jungs um VfB-Kapitän Atakan Karazor so abliefern, wie es der Fanclub-Vorsitzende Heiko Wirkner getan hat. Sage und schreibe 1,66 Millionen Ticket-Anfragen haben den DFB für das Duell David gegen Goliath erreicht. Kein Problem für den früheren Tischtennis-Bundesligaspieler des SSV Reutlingen. »Alle, die sich bei uns angemeldet haben, haben auch Karten bekommen«, sagt Wirkner und grinst. Wie er das gemacht hat? Das bleibt sein Geheimnis! Nur so viel ließ sich der 58-Jährige entlocken: »Die waren auf einmal in meinem Briefkasten.«

Um kurz nach 17 Uhr der Touchdown im Hotel in der Berliner City. Dann noch ein bisschen durch die Stadt schlendern. Vorbei am Reichstagsgebäude und rüber zum Brandenburger Tor. Im Augenwinkel flitzen plötzlich zwei Jogger heran: Jan Herrmann, Sportvorstand des VfL Pfullingen, und Ex-Bundesliga-Stürmer Sven Schipplock (unter anderem VfB und Bielefeld). Auch Fußball-Prominenz aus der Region ist also in der Millionenmetropole vertreten. Nun will man nur noch eines: schnell schlafen. Es fühlt sich an wie in der Kindheit: Die endlos lange Nacht vor dem heiß ersehnten Geburtstag. Die Vorfreude auf das Pokalfinale ist nicht in Worte zu fassen. Da werden selbst erwachsene Fußball-Fans wieder zu Kinder.

Endlich ist der Tag aller Tage gekommen. Der Breitscheidplatz ist an diesem Samstagnachmittag fest in den Händen und Farben des VfB. Bielefelder Fans sind am sechs Kilometer entfernten Alexanderplatz untergebracht. 5.000 Stuttgarter Anhänger will die Polizei rund um die Gedächtniskirche gezählt haben. Nur? Es fühlt sich eher an wie 100.000. Wer Handyempfang hat, kann sich zu den Glücklichen zählen. Die Stimmung: Eine wahre Pracht! Es wird ausgelassen gefeiert und getrunken. Vor allem suchen noch viele händeringend nach Karten. Auf gefühlt jedem zweiten Quadratmeter stehen verzweifelte Fans mit »Suche Karten«-Plakaten. Tausende von ihnen sind an diesem Wochenende ohne Ticket nach Berlin gekommen.

Auch sie sorgen dafür, dass die Gelateria La Fontana an diesem Tag den Umsatz des Jahres macht. Eine einfache Eisdiele am Breitscheidplatz. Die VfB-Fans rennen dem Eisverkäufer die Bude ein: Sie wollen Bier - der sogenannte »Standortvorteil« an Tagen wie diesen. »Das ist jedes Jahr so«, sagt die Kassiererin. Warum man überhaupt Eis zum Verkauf anbietet, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Oder wie es ein genervter Stuttgart-Fan in der meterlangen Warteschlange ausdrückt: »Wer frisst den jetzt ein Eis? Mach da hinten vier Zapfsäulen hin und gut ist.« Das Personal gibt alles, hat aber so seine Probleme mit dem Ausschank. Den Schwaben geht's an der Zapfanlage zu langsam. »Langsam? Langsam ist untertrieben«, ruft ein anderer Stuttgarter aus dem Hintergrund.

So langsam sollte man sich jedoch auch mal mit dem Sportlichen beschäftigen. Der Anpfiff ist nur noch wenige Stunden entfernt. Unterschätzt der VfB womöglich die Arminia? »Das glaube ich nicht. Sie wissen, dass sie mit diesem Spiel die Saison retten können«, so Schwaben-Piranha-Mitglied Fabian, der für den A-Ligisten TSV Sondelfingen auf Torejagd geht. Die 19-jährige Nele sagt: »Das Motto nach all der Scheiße geht's auf die Reise, passt wie die Faust aufs Auge. Die Saison war durchwachsen, aber jetzt geht's bald wieder auf die Reise.« Optimismus ist gut. Der Blick auf die Realität aber noch empfehlenswerter.

Und die sieht wie folgt aus: Wie kommt man eigentlich ans 90 Gehminuten entfernte Olympiastadion? Die U-Bahn ist in Berlin zu dieser Zeit genagelt voll. Alles schreit nach einem Uber-Taxi für rund zehn Mann. »Aber lasst davor noch was bei McDonalds holen«, meint ein Schwaben-Piranha. Der Hunger kickt. Doch Hannes wedelt wenige Sekunden später mit den Armen. »Kommt her und steigt ein«, ruft das Mitglied des Reutlinger Fanclubs, während sich der Rest der Gruppe denkt: »Hä? Das ist doch ein Touri-Hop-on-Hop-off-Bus.«

Ein verzweifelter Hilferuf eines VfB-Fan am Breitscheidplatz.
Ein verzweifelter Hilferuf eines VfB-Fan am Breitscheidplatz. Foto: Ott
Ein verzweifelter Hilferuf eines VfB-Fan am Breitscheidplatz.
Foto: Ott

Ob die Betreiber in diesem Moment das Geschäft ihres Lebens wittern, ist nicht bekannt. Genauso wenig wie die Antwort auf die Frage nach der Legalität des Spontan-Shuttles. Doch ein »Zehner« pro Person für die halbstündige Fahrt mit dem Doppeldecker zum Stadion ist für beide Seiten eine Win-Win-Situation. Den Audio-Guide unter freiem Himmel gibt ein VfB-Fan. Statt historischen Fakten zum Reichstag und dem Schloss Bellevue lautstarke »Europapokaaaaal« und »Wir hol'n den Pokaaal«-Gesänge. »Das ist, glaube ich, die beste Fahrt zum Stadion, die wir je haben werden«, ruft Piranha-Mitglied Dennis in den pfeifenden Fahrtwind und lacht. Als der Fahrer die VfB-Fans in Sichtweite des Stadions rausschmeißt, steht man als Stuttgarter plötzlich mitten in einem blauen Farbenmeer.

Es wird klar: Hier ist das Bielefeld-Revier. »Jeht jetzt schnell mal zu eurem Einjang«, rät ein Polizist in bestem Berliner Dialekt der rot-weißen Gruppe. Die Zeit auf dem Weg zur Ostkurve, die die Schwaben im Vorfeld zugelost bekamen, kann man aber noch nutzen, um mal schnell auf der Gegenseite nachzufragen. Schließlich spricht jeder nur über den bevorstehenden Pokalsieg des großen Favoriten. Und die Bielefelder? »Wir gehen mit einem guten Gefühl ins Finale. Es wird ein gutes Spiel. Ich glaube wir verlieren nach Elfmeterschießen«, meint ein gut gelaunter Ostwestfale.

Mit Äffle und Pferdle zum Pokalsieg. Beide Fanlager zeigen vor der Partie beeindruckende Choreos.
Mit Äffle und Pferdle zum Pokalsieg. Beide Fanlager zeigen vor der Partie beeindruckende Choreos. Foto: Ott
Mit Äffle und Pferdle zum Pokalsieg. Beide Fanlager zeigen vor der Partie beeindruckende Choreos.
Foto: Ott

Wenn selbst die eigenen Fans nicht an die Sensation glauben, wer soll es dann tun? Ist es vielleicht die große Chance für den Drittliga-Meister, weil sich Stiller, Undav und Co. zu sicher fühlen? »Genau das ist das Tückische. Deshalb sind ja auch so viele nach Berlin mitgefahren, weil alle schon ans Feiern denken. Wenn wir gegen Bayern gespielt hätten, wäre der Andrang nicht so groß gewesen«, ist sich Dennis sicher. »Warum soll das schief gehen?«, entgegnet Hannes dem 31-Jährigen. »Wir spielen gegen einen Aufsteiger in die zweite Liga. Das ist ein Riesenunterschied, ob du auf deinem Acker zuhause spielst oder vor 80.000 Leuten in Berlin«

Gegen 19 Uhr dann noch schnell das erste Stadionbier und eine Currywurst schnappen, bevor auf einmal ohrenbetäubender Lärm aufkommt, der bis auf die weitläufige Wiese mit den Bierbänken vor dem Olympiastadion hallt. Die VfB-Spieler sind da. Nichts wie rein in den Fußball-Tempel, der einem beim ersten Anblick von den Tribünen fast erschlägt. Was nicht fehlen darf? Die Ergebnistipps der Schwaben-Piranhas. Die gängigste Prognosen: 3:1, 4:0, 3:1, 3:0. Daniel, der den Trip des Reutlinger Fanclubs organisiert hat, legt sich fest: »Ich tippe auf ein 3:0 zur Halbzeit. Ich habe mit einem Kumpel eine Wette am Laufen. Wenn wir zur Pause nur 1:0 führen, bekomme ich zwei Bier. Wenn wir 3:0 führen, muss ich einen ausgeben.«

Doch in der Anfangsphase schauen die Stuttgarter zunächst verdutzt ins weite Rund des Olympiastadions. Bereits nach 26 Sekunden hallt nach dem Schuss von Arminias Oppie das erste »Ohhhhhh« durch die stimmgewaltige Ostkurve. Und dann jagt auch noch Bielefelds Sarenren Bazee den Ball nach zwölf Minuten aus zwei Metern an die Latte. Halleluja. Wird doch alles enger als gedacht?

Die schnellste 3:0-Führung in der Final-Geschichte des DFB-Pokals

Nur eine Viertelstunde später ist das Ding aber entschieden und der Pokalsieg wird schon kräftig vorzeitig gefeiert. Woltemade, Millot und Undav stellen binnen 13 Minuten auf 3:0. Nie war eine Mannschaft in einem Pokalfinale nach 28 Minuten mit drei Tore in Führung gelegen. Mit 3:0 geht es auch in die Halbzeit. »Diese Wette verliere ich gerne«, sagt Orakel Daniel in der Pause und grinst. Jeder wartet jetzt nur noch auf den Schlusspfiff. Langeweile? »Nein, es ist doch auch mal schön, dass es wieder entspannt ist mit dem VfB«, sagt Kerstin, die Mutter von Nele. Kurz danach schießt Bielefeld zwei Tore in drei Minuten.

Am Ziel der Träume: Der VfB gewinnt den Pokal. Hier feiern Michael (links) und Markus, zwei Fans der Schwaben-Piranhas aus Reutl
Am Ziel der Träume: Der VfB gewinnt den Pokal. Hier feiern Michael (links) und Markus, zwei Fans der Schwaben-Piranhas aus Reutlingen. Foto: Ott
Am Ziel der Träume: Der VfB gewinnt den Pokal. Hier feiern Michael (links) und Markus, zwei Fans der Schwaben-Piranhas aus Reutlingen.
Foto: Ott

Der VfB macht es seinen Fans in dieser Saison echt nicht leicht. Das wird aber nur beiläufig zur Kenntnis genommen. Der Drops ist natürlich längst gelutscht. Der Traum wird wenige Zeigerumdrehungen später tatsächlich wahr: Nach 28 Jahren holt der VfB den deutschen Vereinspokal wieder zurück ins Ländle. Michael geht in der Fankurve tief in sich und genießt einfach nur, als Kapitän Karazor die goldene Trophäe in den Berliner Nachthimmel reckt. Die Ostkurve bebt und der Reutlinger wird in diesem ganz besonderen Moment emotional: »Ich mit meinen 58 Jahren werde das vermutlich nicht mehr erleben. Das ist einmalig.«

Das perfekte Geschenk zum 60. Geburtstag

Dasselbe wird sich auch Ralph in diesem Moment gedacht haben. Am Freitag feierte er seinen 60. Geburtstag. Schon da sagte er: »Mir braucht niemand was schenken. Ich will nur den Pokalsieg.« Die Stuttgarter ließen sich zu seinem »Runden« nicht lumpen. Aber was ist jetzt wichtiger? Der Titel oder die erneut Europapokal-Teilnahme? »Der Pokalsieg. Der bleibt für immer«, meint Kerstin. Auch Daniel antwortet blitzschnell: »Der Pokalsieg. Europa ist nur ein Bonus.« Vor allem aber »juckt die Bundesliga-Saison jetzt kein Schwein mehr«, wie Nele zurecht anführt.

Kurz darauf verabschieden sich die Schwaben-Piranhas zum Feiern in die Nacht. Für die einen geht es früher, für die anderen nach einem längeren Aufentahlt an der Hotelbar erst gegen Morgen ins Bett. Doch pünktlich zur Heimfahrt um 11 Uhr am Sonntag stehen alle Fans aus Reutlingen wieder parat. Die Gesichter sind müde, die Stimmen teilweise kratzig oder weg und Piranha-Mitglied Markus fehlt sogar der linke Brillenbügel. Ausversehen zertreten von Kumpel Alex auf dem Breitscheidplatz. Macht nix. Die Fans gehen mit vollem Körpereinsatz voran. Die VfB-Jungs haben am Samstagabend nachgezogen.

»Das macht Hoffnung auf mehr«, sagt Fanclub-Vorsitzender Wirkner auf der Rückfahrt und kündigt bereits an: »Wir werden sicher wieder eine Ausfahrt zu einem Europa-League-Auswärtsspiel machen.« »Wir hoffen auf das Finale in Istanbul«, ruft Gülten. Busfahrer Michael ergänzt: »Nach Istanbul brauchen wir drei Fahrer. Das habe ich schon ausgerechnet.« Nach all der Schei... geht's wieder auf die Reise: Stuttgart International. Und die Schwaben-Piranhas? Die hatten in Berlin die Zeit ihres Lebens. Diese ist nun vorbei. »Dann gehen wir ab morgen halt wieder schaffen«, betont Alex. (GEA)