STUTTGART. Das kann nicht wahr sein. Das darf einfach nicht wahr sein. Was zur Hölle ist hier gerade passiert? Man konnte aus den fassungslosen Gesichtern der auf den Boden sinkenden Spielern ablesen, was ihnen nach 94 Minuten durch den Kopf ging. In Bad Cannstatt ist am Sonntagabend um 21:21 Uhr die Welt des VfB Stuttgart zusammengebrochen. Es ist wie ein Alptraum, der nicht aufhört und scheinbar längst zur neuen Regel geworden ist: Treffen die Schwaben auf den Double-Sieger Bayer Leverkusen, setzt es nahezu immer emotionale Nackenschläge. Die Liste ist lang. Und vor allem schmerzhaft.
Das war in der vergangenen Rückrunde der Fall, als Robert Andrich nach 96 Minuten den 2:2-Ausgleich erzielte. Das war schon zwei Monate zuvor im Viertelfinale des DFB-Pokals der Fall gewesen, als Nationalverteidiger Jonathan Tah in der Nachspielzeit den 3:2-Siegtreffer erzielte und die Final-Träume der Stuttgarter platzen ließ. Und das war auch im Sommer im Supercup der Fall, als Patrik Schick zwei Minuten vor Schluss zum 2:2 einschoss und damit den späteren Triumph für Bayer im Elfmeterschießen ebnete.
Das alles ereignete sich in der BayArena. Den Gipfel der Last-Minute-Enttäuschungen erlebte das Team von VfB-Coach Sebastian Hoeneß nun ausgerechnet in der heimischen MHP-Arena. Wieder war es Schick, dieses Mal nach 94 Minuten, der zuschlug und die Stuttgarter nach einer 2:0- und 3:1-Führung ins Tal der Tränen stürzte und die 3:4 (1:0)-Niederlage besiegelte. Obwohl man doch eigentlich im rasantesten Spiel der bisherigen Saison praktisch alles richtig gemacht hatte.
Remis-Serie endet
Mit dem 4:3-Erfolg von Bayer Leverkusen endete auch eine kuriose Serie. Viermal trafen Sebastian Hoeneß und Xabi Alonso vor dem Duell am Sonntag in der Bundesliga aufeinander. Alle Ligaduelle zwischen dem VfB und dem Double-Sieger endeten mit einem Remis. Nur zweimal gab es in der Ligageschichte eine noch längere Unentschieden-Serie zwischen zwei Coaches. Fünf Mal trennten sich Peter Neururer und Kurt Jara mit einem Remis. Ganze sechs Mal mussten sich Jupp Heynckes und Dietrich Weise im direkten Trainerduell mit einer Punkteteilung zufrieden geben (ott).
»Ich kann es gar nicht richtig verstehen, wie wir dieses Spiel verlieren konnten«, sagte Nick Woltemade, Torschütze zum 2:0 drei Minuten nach dem Wiederanpfiff und wieder einmal der hochmotorisierte Motor des Stuttgarter Angriffsspiels, wenige Augenblicke nach dem Schlusspfiff ungläubig. Stürmer-Kollege Ermedin Demirovic, der den Vorzug vor dem zuletzt schwachen Deniz Undav bekam, und zum ersten Mal seit dem 1. Februar wieder in einem Bundesliga-Spiel in der Startelf stand sowie nach einer Viertelstunde beim Führungstreffer richtig stand, meinte mit leerem Blick und leiser Stimme: »Das tut einfach nur weh.«
Um bei aller Emotionalität das Sachliche in den Mittelpunkt zu rücken: Wie konnte der VfB dieses Fußballspiel am Ende noch verlieren? »Ich denke aufgrund der ersten beiden Gegentore. Die kamen zu schnell. Und auch die Art und Weise wie sie kamen, waren brutal«, sagte Trainer Hoeneß.
In Zeiten, in denen die Frage häufig lautet, welcher VfB-Kicker den nächsten Bock in der Verteidigung schießt, tut das umso mehr weh. Denn die neu zusammengestellte Hintermannschaft aus Finn Jeltsch, Ameen Al-Dakhil und Ramon Hendriks, die als Dreierkette agierte und im Schnitt gerade einmal 21,3 Jahre jung war, machte fast die gesamte Spieldauer einen überragenden Job und ließ insbesondere in der ersten Hälfte keine richtige Gäste-Chance aus dem Spiel heraus zu.
Nur beim endgültigen K.o.-Schlag darf man in die Fehleranalyse gehen
Man sucht ja häufig einen Schuldigen. Aber was soll man machen, wenn ein durch ein von Angelo Stillers Rettungsgrätsche abgefälschter Schuss nach 56 Minuten im Strafraum direkt vor die Füße von Jeremie Frimpong fällt? Was soll man machen, wenn nach einer Ecke eine Bogenlampe nach dem Aufkommen am Boden unglücklich ans Schienbein von Al-Dakhil springt und von diesem genau in Richtung des starken linken Fußes von Leverkusen-Verteidiger Piero Hincapie abprallt, der dann auch noch den Ball per Dropkick technisch sehenswert ins linke obere Eck hämmert?
Oder beim 3:3-Ausgleich nach 88 Minuten. Ein Gegentor, das laut Hoeneß »dem Ganzen noch einmal die Krone aufsetzt«. Klar hätten die eingewechselten Jeff Chabot und Josha Vagnoman entschlossener gegen Victor Boniface zu Werke gehen können. Dass seine Hereingabe zum in der Mitte zugestellten Schick allerdings so unglücklich von Stillers Fußspitze ins rechte untere Eck abgefälscht wird, da ist auch jeder hochbezahlte Video-Analyst im inzwischen gläsernen Profi-Fußball machtlos. Glück und Pech spielen doch auch eine gewichtige Rolle. Nur beim endgültigen K.o.-Schlag durch Schick darf man in die genaue Fehleranalyse gehen.
Vielleicht lag die Schuld ja aber auch bei jemand ganz anderem. Besser gesagt beim Streamingdienst Dazn, der die Halbzeitpause dazu nutzte, um jedem der es mit dem VfB hält, mit einer Grafik noch einmal unter die Nase zu reiben: Freut euch nicht zu früh! Schließlich verspielten die Schwaben vor dieser Partie bereits 15 Zähler nach einer Führung. Mit anderen Worten: Keine Mannschaft in der Bundesliga schaut nach dem Schlusspfiff so oft blöd aus der Wäsche wie die Stuttgarter. So auch wieder an diesem Sonntagabend. (GEA)