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Aktuell Reportage

Zu Besuch im englischen Sheffield, der Geburtsstadt des Fußballs

Zu Besuch in der Geburtsstadt des Fußballs. Einst spielten Singles gegen Verheiratete, Bartlose gegen Bartträger.

Seit 2001 Vereinsheim des FC Sheffield. Hunde, Kinder und schlammige Stiefel sind willkommen. FOTO: GRIMM
Seit 2001 Vereinsheim des FC Sheffield. Hunde, Kinder und schlammige Stiefel sind willkommen. FOTO: GRIMM
Seit 2001 Vereinsheim des FC Sheffield. Hunde, Kinder und schlammige Stiefel sind willkommen. FOTO: GRIMM

SHEFFIELD. Die Linie 43 bringt mich bei Nieselregen von Sheffields Zentrum an die Peripherie der ehemals weltbekannten Stahlstadt und hält in Dronfield am Pub Coach & Horses, einem 200 Jahre alten, gut erhaltenen Gemäuer. Hunde, Kinder und schlammige Stiefel sind willkommen, heißt es, und Kekse fürs Tier gibt es kostenfrei am bulligen Tresen, an dem das Bier traditionell mit Handpumpen aus den Leitungen gepresst wird. Schwere Tische, gepolsterte Stühle, uralte Deckenleuchter, halbhohe, holzvertäfelte und tiefrot gestrichene Wände, über denen verteilt vier Gitarren hängen, gehören zum gediegenen Ambiente.

Das Coach & Horses ist kein x-beliebiges Lokal im trinkfreudigen England, sondern seit 2001 das Vereinsheim des Sheffield F.C., den der Weltverband Fifa mit Brief und Siegel als ältesten Fußball-Club führt, gegründet am 24. Oktober 1857. Der Sportplatz befindet sich gleich um die Ecke – ein Fußballfeld in erbärmlichem Zustand. Dazu von Wellblech überdachte Tribünen mit etwa 200 Sitzplätzen.

Das Terrain, genannt Home of Football Stadium, liegt noch im Zehnmeilenradius um die anglikanische Kathedrale St. Peter und Paul, wie es die strengen Statuten für einen echten Sheffield-Club vorschreiben. Bei Heimspielen werden selten mehr als 300 Zuschauer gezählt. Es gab Spiele, zu denen mehr ausländische Fans pilgerten als Einheimische. Ganz früher standen regelmäßig nur zehn der Treuesten und ein Hund an der Seitenlinie. Soweit eine der Anekdoten aus der Historie des Vereins, den sie in Sheffield anfangs »The Club« nannten, weil es beinah drei Jahre lang keinen zweiten gab.

An diesem späten Mittwochnachmittag füllt sich allmählich das Coach & Horses. Getränke werden direkt am Tresen geordert. Es wird diskutiert und manchmal auch gelacht, auch wenn den Fans das sportliche Abschneiden der Männer-Mannschaft selten Anlass zur Fröhlichkeit bietet. Denn der FC Sheffield bildet das Schlusslicht in der Northern Premier League Division One East. Der Name klingt edel, suggeriert Großartiges, doch das täuscht: Wir sprechen von der achten Liga im Mutterland des Fußballs.

Erstmals feste Regeln

Seit einer halben Stunde erklingen ausschließlich Oldies und Chris, der Barkeeper, kratzt sich am Hinterkopf, als ich ihn zur düster verlaufenden Saison befrage. Zum Vergessen, meint er. Ich erzähle von zwei unbeantwortet geblieben E-Mails an Chairman Richard Tims. Chris schnappt sein Smartphone, biegt in den Flur ab, aber niemand aus der Vorstandsetage ist zu erreichen. »Die Eigentumsverhältnisse im Verein haben sich geändert«, berichtet der Barkeeper, wie genau, das weiß er nicht. Offizielle Statements: Fehlanzeige. Und der ansonsten monatlich verbreitete Newsletter ist seit Wochen überfällig. Der FC Sheffield kommt einfach nicht weg vom Fleck.

Die Geschichte um die Geburt des ältesten Fußball-Clubs liest sich wie ein spannender Roman, in dem Weinhändler William Prest und Rechtsanwalt Nathaniel Creswick Hauptrollen spielen, zwei vom Cricket begeisterte Männer, die für sich und ihre Freunde nach einem sportlichen Zeitvertreib für die Winterzeit suchten. Das beliebte Rugby kam nicht infrage, da stießen die Pioniere auf das wilde Kicken mit einem ledernen Ball, initiiert insbesondere von Studenten an der Universität Cambridge.

Pater Richard vor seinem Arbeitsplatz, der 900 Jahre alten Kathedrale von Sheffield.  FOTO: GRIMM
Pater Richard vor seinem Arbeitsplatz, der 900 Jahre alten Kathedrale von Sheffield. FOTO: GRIMM
Pater Richard vor seinem Arbeitsplatz, der 900 Jahre alten Kathedrale von Sheffield. FOTO: GRIMM

Als Prest und Creswick schließlich im Herbst 1857 den Sheffield F.C. im Stadtteil Highfield gründeten, Gegner aber noch fehlten, spielten eben Singles gegen Verheiratete, Bartträger gegen Bartlose oder Spieler in roten gegen Spieler in blauen Mützen – bis Hallam CC aus Sheffields Stadtteil Crosspool auf den Plan trat und es am 26. Dezember 1860 zum ersten Match beider Teams kam, den Aufzeichnungen zufolge noch mit jeweils 16 Akteuren. Die ruppige Partie, die Mutter aller Derbys, endete 0:0.

Erstmals ging ein Spiel nach festen Regeln, seitdem Sheffield Rules genannt, über die Bühne. Fortan gab es den Anstoß vom Mittelkreis, Eckball, Einwurf, Freistoß, Abschlag, Abseits, Elfmeter. Und eine Torlatte, wo vorher eine Wäscheleine straff zwischen zwei Pfosten hing. Der Sheffield Code wurde in den folgenden Jahren ständig weiterentwickelt und schließlich mit den Regeln der 1863 in einem Londoner Pub gegründeten Football Association (FA) vereint.

2011 versteigerte der knapp an der Existenzgrenze kratzende FCS beim Auktionshaus Sotheby’s in Englands Hauptstadt sein Heiligtum. Ein bis heute anonymer Bieter erhielt für eine Million Euro das Original der handgeschriebenen Regeln von 1859 und die einzige bekannte Kopie des historischen Dokuments.

Wie viele Fans dem ersten Match zusahen, ist nirgendwo verlässlich dokumentiert. Definitiv: Ein Gewächshaus diente als Hauptsitz des Vereins im Herzen Sheffields und das angrenzende Feld als Spielfläche. Ein richtiges Zuhause gab es nie, der Verein musste ständig umziehen und trug seine Heimspiele auch eine Zeitlang an der Bramall Lane aus, heute die Heimat von Sheffield United, das sich daher mit der ältesten Arena rühmen darf.

Pater Richard, ein United-Fan

Die Pläne, auf dem Ursprungsgelände mithilfe eines Crowdfunding-Projekts ein kleines Stadion zu bauen, legte der FCS wieder ad acta. Doch seit 2021 macht das Vorhaben, endlich eine echte Heimstätte zu besitzen, konkrete Fortschritte: Etwa drei Kilometer nördlich des Pubs soll eine Arena mit der Kapazität für 4.000 Besucher entstehen, in dem auch ein Zentrum Platz findet, um die einmalige Fußballgeschichte der Stadt standesgemäß zu präsentieren. Noch beraten die Ämter, eine Umsetzung steht in Sheffields Sternen.

Etwaige Gedankenspiele, den momentanen Zweitligisten United und Wednesday irgendwann die Stirn zu bieten, gibt es nicht. Denn der Club hat sich dem Amateurfußball verschrieben. Schon die Pioniere hatten sich geweigert, dem in England bereits 1885 eingeführten Profitum beizutreten. Ja, es kann festgehalten werden, dass für den FCS bereits zu dieser Zeit der Abstieg von der Spitze des englischen Fußballs begann. Das letzte Highlight: der Gewinn des FA-Amateurpokals im Jahr 1904. Auch diesen Samstag siegt der Achtligist mit 2:1 im Punktspiel gegen Consett. Das liegt 210 Kilometer nördlich kurz vor Newcastle, eine Entfernung, als müsste der Bezirksligist TSV Genkingen bei Wormatia Worms antreten.

SHEFFIELD EINST ZENTRUM DER STAHLBRANCHE

Stadtteil Abbeydale Geburtsort von Englands Torwart-Legende Gordon Banks

Der Fußball steht nicht allein für Sheffields Weltruhm. Die 600.000-Einwohner-Stadt in South Yorkshire war ein Ursprungsort der Industriellen Revolution und zählte rund 120 Jahre zum Zentrum der Stahlbranche. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken und im Kohlebergbau waren prekär und so verblüfft es nicht, dass hier bereits in den 1860ern Englands erste Gewerkschaften entstanden. Kein Wunder auch, dass die Ruhrpott-Stadt Bochum mit einer vergleichbaren Historie Partnerstadt wurde. Nach dem Niedergang der Schwerindustrie und massenhafter Arbeitslosigkeit entwickelte sich die Metropolregion hin zur Dienstleistungsindustrie und erlebte einen neuen Aufschwung. Sheffield zählt mit 88 öffentlichen Gärten und Parks samt zwei Millionen Bäumen zu Europas grünsten Großstädten. Als die wohl bekannteste Persönlichkeit aus der Musikszene gilt der 2014 gestorbene Rock- und Bluessänger Joe Cocker, ein sportliches Highlight seit 1977 ist die alljährlich im Crucible Theater ausgetragene Snooker-WM. Im südlichen Stadtteil Abbeydale erblickte der mit Abstand beste Torwart der Insel das Licht der Welt: Gordon Banks. 1966 in London Weltmeister nach einem 4:2 in der Verlängerung gegen Deutschland. Inklusive höchst umstrittenen Wembley-Tor. »Banks of England«, der nie für einen Sheffield-Club auflief, lernte seine spätere Ehefrau Ursula während seines Militärdienstes bei der Britischen Rheinarmee in der Nähe von Königslutter kennen. Der 73-malige Nationaltorhüter starb 2019 in Stoke-on-Trent, wo er, von Leicester City kommend, von 1967 bis 1973 spielte. Vor dem Stoke-City-Stadion hat der Verein Banks eine Statue gewidmet. In Sheffield wurde für die Legende am 9. Mai 2006 eine Bronzeplakette auf dem neu errichteten »Walk of Fame« vor dem städtischen Rathaus geschaffen. (gri)

In Sheffields Kathedrale treffe ich Pater Richard. Er hat Begrüßungsdienst, spricht außerordentlich gut deutsch – und er outet sich als Fan von Sheffield United. »Weil ich hier in der Nähe geboren bin«, betont er und fiebert dem bevorstehenden Derby beim FC Wednesday entgegen. »Komm’, ich zeige dir was«, sagt er und wir verlassen das mit 900 Jahren älteste Gebäude der Stadt. Nach 100 Metern erreichen wir ein Haus an der East Parade, an dem eine blaue Tafel prangt. »Hier wurden die Sheffield Rules« geschrieben, erzählt Richard. Diese Station ist Teil einer fantastischen App, die auf einer Acht-Kilometer-Runde zu den legendären Fußball-Schauplätzen führt. Übrigens: Der Pater kommt im April nach Recklinghausen und besucht das Ikonen-Museum, das bedeutendste seiner Art in Westeuropa.

Mit der Tram nach Hillsborough, wo es im Wednesday-Stadion am 15. April 1989 zur Katastrophe kam, als in überfüllten Blöcken ein Wellenbrecher nachgab und im Gedränge 97 Liverpool-Fans starben. An der Gedenkstätte werden noch immer Blumen niedergelegt.

Zurück zum Loxley River, noch einmal Fish ’n’ Chips und in die Sportsbar S6, wo »Jock« die vielen Gäste bewirtet. »Eine harte Woche«, sagt der seit 25 Jahren in Hillsborough lebende Schotte. Erst tagelang die internationalen Pferderennen in Cheltenham, das Sechs-Nationen-Turnier im Rugby und schließlich der Super-Sunday mit dem Finale im Carabao-Cup (Newcastle schlägt Liverpool 2:1) und dem Steelcity-Derby, das United mit 1:0 gewinnt. Pater Richards dürfte das Ergebnis erfreut haben. (GEA)