MAILAND. Es gab eine Menge Tifosi, die diesen deutschen Glücksmoment nur schwerlich ertragen konnten. Viele senkten auf den Tribünen der Kultstätte San Siro verzweifelt den Kopf, als sich an der linken Eckfahne zwei Kumpel ineinander verknäulten. Leon Goretzka war mit ausgebreiteten Armen auf Joshua Kimmich zugelaufen, der die Fäuste ballte und seine Freude herausschrie. Ein Wirkungstreffer, der die heimische Fußball-Seele in ihrem Wesenskern traf.
Beim Abspielen der deutschen Nationalhymne hatten viele italienische Fans noch gepfiffen (und der Kapitän Gianluigi Donnarumma demonstrativ geklatscht), doch ausgerechnet der Schweiger Goretzka sollte in dieser Mailänder Nacht das Publikum verstummen lassen.
Auch diesmal sagte der Mittelfeldmalocher nur so viel wie gerade nötig. »Es war natürlich nicht einfach, das wurde ja auch hinlänglich berichtet«, richtete der 30-Jährige in seinem einzigen Interview am ARD-Mikro aus. »Ich habe da noch nicht so viel zu gesagt, und dabei werde ich es belassen.« Sein gutes Recht. Was er immerhin verriet, dass ihn die Hymne im mächtigen Betonklotz mehr packte, »als ich gedacht habe«. Und ohne übermäßige Genugtuung fügte er noch an: »Man traut sich hin und wieder, sich vor einem Spiel dieses Szenario auszumalen – das habe ich diesmal auch gemacht.« Klar, sein Last-Minute-Tor zum 2:2 im verrückten EM-Gruppenspiel gegen Ungarn 2021 war für die Nationalelf noch wichtiger, aber dieser entschlossene Kopfball zum 2:1 im Nations-League-Viertelfinale gegen Italien geriet so groß, weil hinter ihm die längste Delle der Karriere lag. Geschlagene 16 Monate war er aus dem Dunstkreis der DFB-Elite verbannt worden, nun verkörperte sein 15. Länderspieltor im 58. Einsatz eine Stehaufmännchen-Mentalität, über die Julian Nagelsmann einen gesellschaftlichen Bogen spannte.
»Sein cleverster Move war, dass er nicht immer alles kommentiert hat und ruhig geblieben ist«
Der Bundestrainer wollte nämlich ein Beispiel für jüngere Generationen erkannt haben: »Es ist generell ratsam im Leben, nicht immer alles sofort hinzuwerfen. Wir werden durch das Swipe-Leben dazu gebracht, schnell was Neues zu machen, wenn das Alte nicht so gut ist. Ich gehe in der F-Jugend ins Training, es regnet – und ich mache lieber Hallensport.« Da habe ein Fußballstar bewiesen, »dass es sich lohnt dranzubleiben, durch Täler zu gehen. Sein cleverster Move war, dass er nicht immer alles kommentiert hat und ruhig geblieben ist.« Die Business School Kempten hat kürzlich gerade erst Vorträge ausgeschrieben: »Swipe-Kultur und die Illusion des Perfekten: Verliert die junge Generation das Durchhaltevermögen?« Vielleicht laden sie Goretzka als Gastredner ein?
Man rede bei dessen schwieriger Zeit »nur von Fußball«, betonte der Bundestrainer, aber wichtig war das traumhafte Comeback auch für die ambitionierte Nationalelf, denn ohne den Rückkehrer hätte der Klassiker ja kein gutes Ende genommen. Nagelsmann kürte seine Nummer Acht nach einem »Top-Top-Spiel« umgehend zum »MVP« – dem »Most Valuable Player«, dem wertvollsten Spieler. Dabei war der Marktwert des gebürtigen Bochumers doch sowohl beim FC Bayern als auch bei der DFB-Auswahl tief gesunken. Nicht mehr berücksichtigt bei den missratenen Länderspielen gegen die Türkei und Österreich im November 2023, für die Heim-EM 2024 durchs Rüttelsieb gerauscht, bald auch im Klub irgendwie überzählig.
Goretzka hat zu all den Demütigungen nichts gesagt – und einfach weitergemacht. Irgendwann setzte ihn Vincent Kompany wieder ein, Nagelsmann folgte nach einer persönlichen Aussprache in München. »Leon ist ein intelligenter und guter Mensch. Er war damals vor der EM nicht top im Flow, wir hatten Toni Kroos zurückgeholt und uns gegen ihn entschieden«, erklärte der ehemalige Bayern-Trainer nun in Mailand. »Aber ich werde nie sagen, dass er ein schlechter Charakter ist, er ist ein Top-Charakter.« Schließlich habe Goretzka in seiner schwierigen Zeit bei den Bayern »sehr für mich gekämpft, was ich gut fand«. Nun habe man einen gemeinsamen Nenner gefunden.
Seine wahren Gedanken während der Verbannung behält der schlaue Profi wohl noch eine ganze Weile für sich. Jeder Anflug von Kritik könnte wieder als Nachtreten ausgelegt werden. Worte zählen für ihn mehr als Taten. Geredet wird nur dann, wenn es hilfreich ist. Etwa mit Kapitän Kimmich, der aus einem wichtigen Dialog mit Weggefährte Goretzka aus der Pause berichtete. »Er hat sich in der Halbzeit noch beschwert, dass ich immer 20 Zentimeter zu hoch flanke bei ihm. Dann hat zum Glück der letzte gepasst.« (GEA)
STARKE EINSCHALTQUOTE
Das erfolgreiche Hinspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im Nations-League-Viertelfinale hat der ARD eine starke Einschaltquote beschert. Im Schnitt verfolgten 8,16 Millionen Menschen den 2:1-Auswärtssieg der Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann gegen Italien in Mailand, dies entsprach am Donnerstagabend einem Marktanteil von 33,9 Prozent. In der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen lag dieser mit 36,8 Prozent noch einmal höher. (SID)