REUTLINGEN. Zwei erfolgreiche Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande sowie eine imposante multi-mediale Nominierungs-Inszenierung des deutschen EM-Kaders haben vor dem Start der EM »dahoam« eine Welle der Euphorie ausgelöst. Plötzlich ist von den K.o.-Spielen die Rede. Ja, sogar vom Titel. Nicht nur der 2014er-Weltmeister Christoph Kramer lässt sich zu gewagten Prognosen hinreißen. Ein wenig Realismus ist aber durchaus angebracht, waren die deutschen Kicker doch bis vor kurzem noch für genau diese vermeintlichen Experten nicht mehr als ein krasser Außenseiter.
Urplötzlich sind die Probleme in Vergessenheit geraten, die die Nagelsmanns Truppe lange quälten. Allen voran die instabile Verteidigung, die auch einer der Gründe war, dass das Team zuvor in Tests gegen Österreich und die Türkei empfindliche Pleiten einstecken musste. Die Fußball-Deutschland viel Frust bescherten, die sogar den Bundestrainer in Erklärungsnot brachten. Dieser hatte schon mal vorsorglich eingeräumt, dass bis zum Anpfiff Mitte Juni »kein Verteidigungsmonster« mehr aus seiner Mannschaft werden würde.
Die Wahrheit liegt auf dem Platz
In Luft aufgelöst scheint sich auch die Diskussion um fehlende Führungsspieler und dem mangelnden Teamgeist zu haben. Zwar hat Nagelsmann mit Robert Andrich und Toni Kroos zwei echte Typen im Zentrum aus dem Hut gezaubert, gelöst sind diese Probleme damit aber nicht. Der Real-Star ist zwar ein Ruhepol, der dem deutschen Spiel zweifelsohne guttut. Als Lautsprecher auf dem Rasen ist der Strippenzieher der Königlichen aber nach wie vor nicht bekannt. Auch sei die Frage erlaubt, ob aus einer Ansammlung von Top-Individualisten quasi über Nacht eine funktionierende Mannschaft entstanden ist. Mit mehr als einem »Jein« kann sie nach nur zwei erfolgreichen Testspielen nicht beantwortet werden.
Hungrige, formstarke Kicker wie Florian Wirtz, Deniz Undav und Kai Havertz sorgen aber durchaus für Hoffnung. Nur Schwarzmalerei ist daher genauso wenig angebracht wie uneingeschränkter Optimismus. Wie immer gilt: Die Wahrheit is‘ auf’m Platz. (GEA)