KÖLN. Absehbar war das nicht. Aber, wie das Leben so spielt, kann man aus Laupheim ziemlich weit in der Welt herumkommen. Zwölf Jahre lang war Professor Dr. Ansgar Thiel Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Tübingen, danach Dekan der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät in Tübingen und seit Mai ist er gewählter Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, der bedeutendsten Sport-Universität Europas. Er fühlt sich wohl in Köln, sagt er, wohnt noch auf dem Campus wie die Studierenden. Wohnungssuche ist auch für Rektoren in Köln ein Problem, die Familie ist weiter in Tübingen. Thiel kommt gerade aus Oregon zurück, wo sich die führenden sportwissenschaftlichen Institute der Welt getroffen haben. Der Mann hat zu tun, aber Zeit für ein Gespräch mit dem GEA findet sich dann doch. Ansgar Thiel über seine Wissenschaft, das auf Eis liegende Sportfördergesetz der gescheiterten Ampelkoalition und warum der Sport und seine Wissenschaft in der Öffentlichkeit der Republik immer noch nicht die Bedeutung haben, die ihnen zusteht.GEA: Olympia 2024 in Paris hat erneut gezeigt, dass der deutsche Spitzensport international nur noch zweitklassig ist, öffentliche Kritik an der Sportförderung in Deutschland war die Folge. Abhilfe soll zukünftig ein Sportfördergesetz schaffen. Wie denkt man in der Sportwissenschaft darüber?
Ansgar Thiel: Ein Problem des Sportfördergesetzes ist aus der Sicht der Wissenschaft, dass die wesentlichen Treiber des Gesetzes das Bundesministerium des Innern und der Deutsche Olympische Sportbund sind, während sportwissenschaftliche Einrichtungen bei dem Entwurf so gut wie gar nicht einbezogen wurden. Bei den Entwicklungs- und Optimierungszielen des Gesetzes werden vor allem Sportorganisationen, Sportverbände, Leistungszentren, Olympiastützpunkte, fokussiert. Die Wissenschaft, die Universitäten, werden fast gar nicht genannt. Leistungszentren und Olympiastützpunkte produzieren aber kein wissenschaftliches Wissen. Wer soll notwendiges wissenschaftliches Wissen produzieren, wenn nicht die Universitäten?
Schafft ein Sportfördergesetz am Ende mehr Probleme als Lösungen?
Thiel: Das Sportfördergesetz ist fokussiert auf den Spitzensport, der Spitzensport ist aus meiner Sicht unzweifelhaft wichtig, aber der Spitzensport ist nur ein Ausschnitt des Sports. Ist der Spitzensport noch der entscheidende Motivator des Sports? Für die klassischen Sportarten stimmt das zum Teil, für die neuen Sportarten stimmt es nicht mehr, dort ist die Öffentlichkeit eine andere als in den klassischen Sportarten.
Sind der Sport und seine Wissenschaft den Deutschen insgesamt nicht bedeutsam genug?
Thiel: Die Deutsche Sporthochschule Köln ist die größte ihrer Art in Europa. Aber wenn wir ins Ausland schauen, sehen wir, dass Sport und Sportwissenschaft dort gesellschaftlich einen ganz anderen Stellenwert haben. In den USA werden dreistellige Millionensummen in High Performance Studien investiert, die sich mit der gesamten biopsychosozialen Einheit Mensch beschäftigen. Die gesamte Gesellschaft profitiert, nicht nur der Spitzensport. Bei uns sind die Sportmedizin, die Biochemie, die Biomechanik, die Sportpsychologie und andere Forschungsgebiete der Sportwissenschaft von der Qualität der Forscherinnen und Forschern her gesehen international absolut konkurrenzfähig. Aber bei den Forschungsprogrammen, vor allem bei den finanziellen Investitionen in die Forschung, hat Deutschland enormen Nachholbedarf.
Sie sind nach Ihrem Wechsel von Tübingen nach Köln seit sechs Monaten Rektor der Sporthochschule. Können Sie da noch in erster Linie Wissenschaftler sein, oder orientiert sich Ihr Selbstverständnis eher an Rollen wie der eines Sportpolitikers oder Akquisiteurs?
Thiel: Interessante Frage. Es hat sich definitiv verändert. In Tübingen war ich zuletzt hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Ich sehe mich in Köln wieder als Sportwissenschaftler, aber primär in der Rolle eines Wissenschaftsmanagers. Ich denke darüber nach, wie wir leistungsstarke Einzeleinheiten unserer Universität stärker zu einem exzellenten Gesamtkonzept formen können. Wie können wir sportliche Leistung fördern, nicht nur im Spitzensport, sondern auch bei Heranwachsenden? Wie realisieren wir gesundes Altern, wie bringen wir Menschen in den Zustand, gesund zu altern? Die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft ist ein wesentliches Problem, ebenso wie Migration und Integration. Wie bekämpfen wir den durch Digitalisierung verschärften Bewegungsmangel? Wie machen wir Menschen fit genug, um die gesundheitsbezogenen Folgen der dramatischen Veränderung des Klimas zu überstehen? Wir wollen und müssen mit Sport und Bewegung dazu beitragen, gesellschaftliche Probleme zu bewältigen. Es geht im Sport nicht nur darum, Medaillen zu gewinnen.
Wie glauben Sie, wird die Sporthochschule in diesem Zusammenhang öffentlich wahrgenommen?
Thiel: Die Deutsche Sporthochschule Köln ist eine in der Öffentlichkeit bekannte Universität, aber insgesamt wissen Bürgerinnen und Bürger wenig über sie. Deshalb stellen wir uns die Frage, wie wir die Notwendigkeit von Sport- und Bewegungsforschung stärker in die Öffentlichkeit transportieren. Wir haben zahlreiche Forscherinnen und Forscher der Weltklasse, aber werden in der breiteren Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Gleichzeitig ist das, was wir in der Forschung vertreten, von höchster gesellschaftlicher Relevanz. Die Relevanz sport- und bewegungswissenschaftlicher Forschung ist dramatisch gestiegen, aber am Ende des Tages hängt alles vom Geld ab. Aktuell befinden wir uns in einer gesellschaftlich krisenhaften Situation, die Ampelkoalition ist gescheitert, die Bundesländer stehen vor massiven finanziellen Problemen. Das alles wirkt sich nicht nur auf unsere Universität, sondern auf alle Universitäten Deutschlands aus, sie waren und sind ohnehin nicht das Lieblingskind der Politik.
Würde ein Bundessportministerium die gesellschaftliche Position des Sports verbessern?
Thiel: Absolut. Ein Sportministerium würde uns sicher weiterbringen, noch besser: ein Sport- und Bewegungsministerium. Als Bestandteil des Bundesinnenministeriums ist der Sport klar unterrepräsentiert, Sport war und ist im BMI nicht prioritär – und das bei über 40 Millionen Menschen, die sich in Deutschland mehr oder weniger regelmäßig sportlich betätigen, das sind viel mehr als die 29 Millionen, die in Sportvereinen organisiert sind. Das BMI ist zuständig für den Spitzensport – das hat auch politische Gründe. Der Spitzensport ist aber nur ein kleiner Teil des sportlichen Gesamtgeschehens in unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine neue Vision, andere Länder haben das lange erkannt und sind in ihrer Entwicklung wesentlich weiter.
Geht es ein wenig konkreter?
Thiel: Ich habe die Bedeutung von Sport und Bewegung für die Bewältigung von demographischer Alterung, Digitalisierungsfolgen und Integrationsproblemen schon angesprochen. Wir sind ein wissenschaftliches Fach, das äußerst effektive Lösungen für gesellschaftliche Probleme liefern kann. Doch das scheint nicht gesehen zu werden. Nehmen wir das gesellschaftliche Problem Einsamkeit. Die Politik redet andauernd von diesem Problem, aber betont an keiner Stelle den Sport. Wenn man in funktionierende sportive Netzwerke eingebunden ist, ist das Risiko der Einsamkeit massiv reduziert. Aber was tun wir, um diese Netzwerke politisch zu aktivieren, zu fördern und auszubauen?
»Spitzensport ist nur ein kleiner Teil des sportlichen Gesamtgeschehens in unserer Gesellschaft«
Zum Ausgangspunkt zurück. Offenbar steht die Sportwissenschaft nicht massiv genug in der Öffentlichkeit.
Thiel: Exakt. Das ist ein gravierendes Problem. Die öffentliche Sichtbarkeit oder die Sichtbarmachung der Sportwissenschaft ist deshalb auch ein wesentlicher Inhalt unseres Hochschulentwicklungsplans. Sportstudierende müssen wissen, dass sie ein Fach studieren, das wichtiger ist als jemals zuvor. Unsere Absolventinnen und Absolventen kommen aber noch nicht auf den Gedanken, in der Öffentlichkeit als Propagandisten ihrer Universität aufzutreten. Dabei müssten sie Multiplikatoren sein – wie Alumni guter Unis in den USA. Das gilt auch für die Wissenschaftler selbst. Top-Wissenschaftler funktionieren nach einer anderen Logik. Den Spitzenwissenschaftlern ist es wichtiger, in wissenschaftlichen Top-Journalen zu publizieren als in der Öffentlichkeit für die Sportwissenschaft Werbung zu machen. Wir brauchen aber beides. (GEA)
ZUR PERSON
Ansgar Thiel, Sportwissenschaftler, geboren am 6. November 1963 in Laupheim, seit 20. Mai 2024 Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, Promotion 1996 und Habilitation 2000 an der Universität Bielefeld, Professor in Chemnitz, ab 2004 in Tübingen. Zwölf Jahre lang Direktor des Instituts für Sportwissenschaft, danach Dekan der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät in Tübingen. (cfi)