AMSTERDAM. Amsterdam als weltoffene Stadt der Lebensfreude zu bezeichnen, ist gewiss keine Übertreibung. Die berühmten Grachten, die betörenden Baudenkmäler und ein besonderes Flair: Kein Wunder, dass es so viele Touristen stets in die Hauptstadt zieht. Der Königliche Niederländische Fußballbund (KNVB) hat seinen Campus zwar 50 Kilometer entfernt in Zeist errichtet, aber bedeutende Länderspiele werden stets in der nach der 2016 verstorbenen Legende Johan Cruyff benannten Arena in Amsterdam ausgetragen.
Die moderne Spielstätte im Stadtbezirk Zuidoost mit ihren 55.000 Sitzplätzen ist natürlich auch Schauplatz für die prestigeträchtige Nations-League-Paarung zwischen Niederlande und Deutschland (Dienstag 20.45 Uhr/RTL). Ein unrühmliches Kapitel schrieb einst auch Ronald Koeman, als der frühere Weltklasse-Libero nach dem EM-Halbfinale 1988 in Hamburg das Jersey von Olaf Thon für eine unfeine Geste missbrauchte.
Für Streitigkeiten zu haben
Natürlich längst Schnee von gestern, aber für Streitigkeiten ist der 61-Jährige irgendwie bis heute zu haben. Xavi Simons ging er vor einigen Monaten mal öffentlich für dessen Ballverluste an, sodass es eine ganze Weile dauerte, bis der Tempodribbler von RB Leipzig einen Stammplatz bekam. Kürzlich kritisierte Koeman harsch den Wechsel von Steven Bergwijn nach Saudi-Arabien und schloss künftige Nominierungen aus, weshalb der Flügelspieler ankündigte, nicht mehr unter diesem Coach anzutreten. Zudem spielt auch Memphis Depay gerade keine Rolle fürs Nationalteam.
Der 30-Jährige hat noch 2018 unter Koeman bei der 3:0-Gala zur Nations-League-Premiere gegen die Deutschen famos gezaubert, ist aber nach seinem Abschied bei Atlético Madrid derzeit vereinslos und soll sich mit Corinthians auf einen Wechsel nach São Paulo verständigt haben. Dazu wollte der gewiss nicht für den diplomatischen Dienst taugende Koeman gar nichts mehr sagen: »Ich werde mir nicht noch einmal die Finger verbrennen, bevor wieder das ganze Land über mich herfällt.«
Nur das Hier und Jetzt zählt
Mitunter erinnert der Fußballlehrer an die knorrige Eiche, an der sich alle reiben. Ihn interessiert nur das Hier und Jetzt – da zieht eben einer seine Linie konsequent durch. Immerhin kam »Oranje« unter Koemans Anleitung bei der EM mal wieder bis ins Halbfinale, schied erst gegen England aus. Die KNVB-Bosse wollten nach Louis van Gaal wieder jemand, der die heimische Fußball-Seele versteht; der als ehemaliger Spieler von Ajax Amsterdam und PSV Eindhoven die Befindlichkeiten der Klubs, aber auch der »Elftal« kennt. Denn Koeman besetzte schon von 2018 bis 2020 den Trainerposten, ehe er dem Lockruf seines Ex-Klubs FC Barcelona folgte. Viele werfen ihm vor, er müsste gerade deshalb die Vorliebe für offensiven Fußball teilen, doch der ehemalige Abwehrspieler hasst eigentlich nichts mehr als den Kontrollverlust.
Insofern war das Spektakel gegen Bosnien-Herzegowina (5:2) fast atypisch. »Das sah sehr gut, sehr lebendig aus. Gegen Deutschland wollen wir im Umschaltspiel gefährlich werden«, sagte Koeman danach. Zwar setzt auch er aufs traditionelle 4-3-3-System, stellt aber gerne eine eher defensiv denkende Mittelfeldreihe auf. Zudem wird auch nicht der beim FC Bayern ausgebildete und dann zu Manchester United gewechselte Joshua Zirkzee nach seinem furiosen Startelfdebüt gegen Bosnien beginnen, sondern der schnellere Brian Brobbey von Ajax Amsterdam soll diesmal vorspielen.
Der 22-Jährige, der nach einer erfolglosen Spielzeit bei RB Leipzig fast wehmütig in die Heimat zurückkehrte, wird zusammen mit Jerdy Schouten vom Meister PSV Eindhoven der einzige Akteur aus der Startelf sein, der noch in der Eredivisie kickt. Dort hat erstaunlicherweise der Rekordmeister Ajax Amsterdam ziemlich den Anschluss verloren, lief nur noch als Fünfter ein, qualifizierte sich aber gerade noch für die Europa League. Der Renommierverein ist in Amsterdam für viele mindestens so wichtig wie der Coffeeshop um die Ecke. Selbst zum Playoff-Rückspiel gegen Jagiellonia Białystok aus Polen leisteten 54.000 Fans bedingungslose Unterstützung. Sie tobten, als ihr Liebling Brobbey an jenem Abend den 3:0-Schlusspunkt setzte. Nun soll der Lokalmatador gleich auch gegen »Duitsland« treffen. (GEA)