REUTLINGEN. Jolina Kemmler reibt sich verschlafen die Augen. Kein Wunder: Die Elfjährige hat anstrengende Tage hinter sich. Am vergangenen Sonntag um 4.30 Uhr bricht sie gemeinsam mit ihrem Vater aus Reutlingen auf, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen. Noch am selben Abend läuft sie nach stundenlanger Anreise mit dem slowakischen Nationalspieler Peter Pekarik in die mit 55.000 Fans gefüllte Fußball-Arena in Gelsenkirchen. Kurz zuvor trifft sie im Spielertunnel auf die englischen Fußballstars und ihre großen Idole Harry Kane und Jude Bellingham. Nach fünf Stunden Schlaf geht es am Folgetag wieder um 5.30 Uhr aus den Federn. Das Radio will ein Interview. Und nun? Stunden später stellt auch noch dieser Zeitungsredakteur Fragen, um einen Artikel im GEA zu schreiben. Da darf ein klein bisschen Schläfrigkeit auch sein. Als das Gespräch dann aber um ihren großen Moment geht, funkeln die Augen.
Los geht das Abenteuer in den Katakomben der Arena. Dort trifft die Nachwuchsfußballerin des TSV Sondelfingen auf die Weltstars des englischen Nationalteams und schwärmt: »Sie waren alle sehr nett und haben mit uns abgeklatscht.« »Ich habe Kane gesehen«, ergänzt sie und erklärt, dass der einer ihrer Lieblingsspieler ist. Ach ja: Und Bellingham. Ein wenig enttäuscht ist Jolina von den beiden aber. Der Torjäger des FC Bayern und der Real-Star seien etwas eigen gewesen. Während die anderen alle auf sie zukommen, zeigen Harry und Jude keinerlei Interesse. Aber der Kummer ist schnell vergessen, schließlich geht es dann auch schon richtig los. Raus aufs Feld.
»Es hat sich angefühlt, als hat es nur eine Sekunde gedauert«
Jolina zückt ihr Smartphone und zeigt stolz die Fotos des Achtelfinal-Abends. Dabei erzählt sie ganz entspannt von ihrem Walk. Die Gemütslage von Vater Thomas ist da etwas unruhiger. »Als sie reingelaufen ist, war ich sehr nervös. Ich habe eine Gänsehaut bekommen.« Er selbst sitzt in dem Moment auf der Tribüne und kann seiner Tochter, die Autistin ist, nicht mehr helfen. Sorgen macht er sich allerdings auch nicht. »Sie ist eine coole Socke«, weiß er. Für die Reutlingerin geht dann alles ruck-zuck. »Es hat sich angefühlt, als hat es nur eine Sekunde gedauert.« Ganz ohne Nervosität ging es aber auch nicht. »Mein Puls war über 100«, berichtet die aufgeweckte Schülerin und zeigt ihre Smartwatch. Ihr Papa schüttelt nur den Kopf und murmelt: »Ich könnte das nicht.«
Dass Jolina einlaufen darf, verdankt sie genau ihm. Ohne groß nachzudenken, machte Thomas Kemmler beim Gewinnspiel einer Discounter-Kette mit. Lange Zeit später, als niemand mehr damit rechnete, meldete sich diese und teilte mit, dass Vater und Tochter beim Achtelfinale in Gelsenkirchen dabei sein können. Es war nicht der erste Gewinn für den bekennenden Fan der Stuttgarter Kickers, der mit seiner Tochter ins Stadion geht, seit sie zwei Jahre alt ist. Zuvor hatte er schon mehrfach Tickets für Spiele des VfB Stuttgart gewonnen, die er dann mit Jolina besuchte, wenngleich er im selben Atemzug betont, dass sie keine VfB Fans sind.
Nachdem das Einlauf-Spektakel auf Schalke vorbei ist, geht es für Jolina runter vom Platz und zu ihrem Papa auf die Tribüne. Gemeinsam verfolgen sie das Spiel und genießen die Stimmung. Die junge Reutlingerin drückt beiden Teams die Daumen, allerdings ein Prozent mehr den Briten, wie sie sagt. »Weil da Kane und Bellingham spielen.« Übel genommen hat sie es ihnen wohl nicht, dass sie nicht grüßen wollten. Dafür gibt es ein Autogramm vom ehemaligen englischen Nationalspieler Rio Ferdinand auf das Trikot, dass die Discounter-Kette, die das Gewinnspiel veranstaltete, ihr schenkte. Auch Schuhe, eine Basecap, ein Sticker-Sammelalbum bekommt die Reutlingerin.
Zu Ende geht der anstrengende, aber »unvergessliche Tag«, wie beide betonen, im Hilton-Hotel in Düsseldorf. Auf dem Rückweg in die Heimat machen beide die Erfahrung, was es bedeutet, mit der Deutschen Bahn zu reisen. Weil ein Baum auf die Strecke gefallen ist, fährt ihr ICE nicht. Stattdessen geht es in einen überfüllten Ersatzzug, der so voll ist, dass an Sitzen nicht zu denken ist. Nach über fünf Stunden Fahrt kommen beide dann doch irgendwie in Reutlingen an.
»Ich habe mich auf den Stuhl gesetzt und bin einfach eingeschlafen«
In den eigenen vier Wänden geht dann nichts mehr. »Ich habe mich auf den Stuhl gesetzt und bin einfach eingeschlafen«, erzählt Jolina. Zum Glück stellt sie die Schule für den Tag der Ankunft frei. Am Morgen darauf aber folgen die nächsten Probleme. Nicht nur hat die Elfjährige einen langen Tag vor sich, weil auch noch Mittagsschule ist, der Schuh drückt noch an ganz anderer Stelle: Während einige ihrer Freunde sich brennend für ihr Abenteuer interessieren, wollen andere ihr die Geschichte einfach nicht glauben. Das Problem: Die ganzen Fotos auf dem Smartphone kann die Schülerin nicht als Beweis vorzeigen, da das Teil vor Ort verboten ist.
Während sie das alles erzählt, kommt die Müdigkeit allmählich zurück. Als dann ihr Vater noch etwas ergänzt, zeigt sie auf ihre Uhr. »Es ist Viertel nach sechs, meint sie« und blickt vielsagend zur Tür. Schließlich geht es auch morgen wieder früh raus. Die Tage dann aber mit der Zeitung im Gepäck, die über ihr Abenteuer berichtet. Denn die ist ja erlaubt. (GEA)