DORTMUND. Joshua Kimmich, Tim Kleindienst und Robert Andrich schienen erst einmal kein Gehör für den Klassiker »Major Tom« zu haben. Statt dessen hielt sich die Troika die Hände vor den Mund, damit kein Lippenleser die eindringliche Unterredung bei der deutschen Nationalmannschaft enttarnte. Der Redebedarf wirkte bereits auf dem Rasen nach dem 3:3 gegen Italien wegen der verspielten 3:0-Führung immens. Das Publikum fand den »völlig losgelösten« Vortrag trotzdem dufte, weil die DFB-Auswahl erstmals das Final Four der Nations League erreicht hatte. Gleichwohl wirkten die Kontraste beim Drama von Dortmund so gewaltig wie der Unterhaltungswert. Viele glückliche Gesichter, aber eben auch große Fragezeichen hatte dieser betörende Fußballabend im schwarz-gelben Stimmungstempel produziert: Eine Halbzeit nahe an der Perfektion, dann ein Durchgang fast mit komplettem Systemausfall.
Dass die deutsche Pressingmaschine die Italiener über 45 Minuten derart in den Würgegriff nahm, fand Julian Nagelsmann »beeindruckend«, die erste Halbzeit sei definitiv »die beste meiner Amtszeit« gewesen, meinte der Bundestrainer: »Ein Fußballspiel ist nie perfekt. Es war aber unfassbar ansehnlicher Fußball.«
Unerklärlicher Spannungsabfall
Unerklärlich jedoch auch der Spannungsabfall. Auf einmal bekamen dieselben Kicker schlottrige Knie, die zuvor noch den früheren Angstgegner nach Belieben beherrscht hatten. Die Auswechslungen von Angelo Stiller und Leon Goretzka, vehement vom Verantwortlichen Nagelsmann mit drohender Gelb-Rot- beziehungsweise Verletzungsgefahr verteidigt, trugen nicht dazu bei, den Kontrollverlust zu beheben. Manches erinnerte an das vogelwilde 4:4 gegen Schweden aus dem Oktober 2012, als ein Team unter Anleitung von Joachim Löw nach einem 4:0-Vorsprung in Berlin von allen guten Geistern verlassen schien.
Dass Giacomo Raspadori mit einem Handelfmeter in der Nachspielzeit nach dem Doppelschlag von Moise Kean (49. und 69.) sogar noch den Ausgleich für die Squadra Azzurra erzielte, nahm Nagelsmann beinahe achselzuckend hin. »Man versucht, aus negativen Dingen etwas Positives herauszuziehen. Für unsere Entwicklung ist es besser, als wenn wir 4:0 gewonnen hätten.« Der 37-Jährige argumentierte: »Die Erkenntnis aus diesen Partien ist für uns Weltklasse und für unsere Entwicklung super.« Zumal man ohne Florian Wirtz und Kai Havertz phasenweise brillierte.
Viel gelernt mit Blick auf 2026
Insgesamt habe sein Ensemble mit Blickrichtung auf die WM 2026 in Kanada, Mexiko und USA viel gelernt: Erstens könne man »Rückstände wie im Hinspiel aufholen«, zweitens »herausragend Fußball spielen«. Und drittens wisse man jetzt, »dass das Spiel in der Halbzeit nicht vorbei ist«. Seine Mannschaft habe sich auf jeden Fall in anderthalb Jahren »gut entwickelt«, und ein »Land der Meckerer« (O-Ton Bundestrainer) könne ruhig »stolz auf diese Gruppe« sein. Vom 4. bis 8. Juni soll zumindest in Stuttgart und München wieder die Stimmung aus der Heim-EM reanimiert werden, zumal die Besetzung mit Spanien, Frankreich, Portugal und eben Deutschland namhafter kaum hätte sein können. Allerdings seien die Portugiesen im Halbfinale »ein dickes Brett« mit hervorragenden Einzelspielern – und damit war nicht Superstar Cristiano Ronaldo gemeint. Die Nations League zähle nicht so viel wie eine EM, deshalb solle ihm auch keiner mit einer möglichen Revanche gegen Spanien kommen, das sei »ein bisschen zu hoch gegriffen«, doch einen ersten Titel würde er schon gerne holen.
Club-WM: Interessenskonflikte
Nagelsmann vertrat eine klare Haltung zu möglichen Interessenskonflikten mit der Club-WM: »Bei einem Turnier kann man keine Rücksicht nehmen. Das werden die Spieler auch gerne spielen wollen, weil sie es sich erarbeitet haben.« Bekanntlich sind Bayern München und Borussia Dortmund in diesem aufgeblähten Format mit 32 Vereinsmannschaften vom 15. Juni bis 13. Juli in den USA involviert. Der finanzielle Gewinn ist riesig, der sportliche Wert zweifelhaft. Nagelsmanns Meinung: »Die Club-WM ist eine brutale Belastung. Mehr sage ich dazu nicht.« Vielspieler wie Joshua Kimmich müssen ausbaden, was Uefa und Fifa verzapft haben. Der DFB-Kapitän könnte weit nach Ende der Bundesligasaison noch mal um drei Titel kämpfen: Champions League, Nations League und Club-WM. Immerhin ist das Perpetuum mobile der deutschen Nationalelf keiner, der darüber klagt. Der 30-Jährige fand am Sonntagabend die erste Halbzeit »sehr, sehr sexy«, doch insgesamt müsse man noch »viel dazulernen«. Der omnipräsente Anführer, der erst einen Elfmeter verwandelte (30.), dann geistesgegenwärtig mit Unterstützung eines aufgeweckten Balljungen für Jamal Musiala (37.) und mit der nächsten Maßflanke für Tim Kleindienst (45.) auflegte, hielt fest: »Für uns ist es wichtig, dass wir spüren, dass wir gegen die Topteams in Europa mithalten und gewinnen können. Wir haben das Gefühl, dass wir solche Mannschaften dominieren und schlagen können. Das muss in unseren Köpfen sein.« (GEA)