MOTHERWELL. In einer ruhigen Minute denkt Michael Wimmer manchmal schon noch darüber nach. Was gewesen wäre, wenn die Verantwortlichen des VfB Stuttgart dem Interimscoach nach der Entlassung von Pellegrino Matarazzo im Dezember 2022 weiter das Vertrauen geschenkt hätten. Doch die Geschichte ist eine andere: Die Wahl fiel damals auf Routinier Bruno Labbadia. Aber nach nur 119 Tagen war die Rückholaktion des Coaches offiziell gescheitert. Dann übernahm Sebastian Hoeneß, rettete den Traditionsclub trotz einer maximal komplizierten Ausgangslage in der Liga und führte die Schwaben in der Folge in unfassbare Höhen.
Doch was wäre wohl gewesen, wenn der bei den Fans beliebte und bis dato als Co-Trainer arbeitende Wimmer nach starken vier Siegen in sieben Pflichtspielen hätte bleiben dürfen? »Man kann nicht in die Glaskugel schauen, was dann gewesen wäre. Sie haben jedenfalls alles richtig gemacht mit dem Weg, den sie genommen haben. Das freut mich tierisch und mit Hoeneß haben sie mehr als den perfekten Trainer«, sagt Wimmer knapp zweieinhalb Jahre später im Gespräch mit dem GEA. Groll hegt der 43-Jährige aber absolut keinen. »Ich hatte dreieinhalb Jahre eine superschöne Zeit. Der Club hat sich damals eben für die Erfahrung entschieden. Ich habe das Null-Komma-Null als Entscheidung gegen mich gewertet.«
57-Spiele-Amtszeit bei Austria Wien
Ziemlich sicher ist dagegen, was nicht gewesen wäre, wenn er damals Coach beim VfB geblieben wäre. Dann hätte sich gebürtige Dingolfinger nach einer 57-Spiele-Amtszeit - mit respektablen 1,50 Punkten im Schnitt - bei Austria Wien im Februar dieses Jahres wohl nicht das Abenteuer seines Lebens gestürzt. Wimmer trainiert seit drei Monaten den schottischen Erstligisten und Traditionsclub Motherwell FC. Da wird vielen Fußball-Romantikern nun das Herz aufgehen und sich gleichzeitig vor ihnen ein Berg voller Fragen auftürmen.
Zum Beispiel: Wie ticken die hartgesottenen, offenbar sehr trinkfesten und vor allem stimmgewaltigen schottischen Fans, die als »Tartan Army« die EM in Deutschland extrem bereichert haben, denn wirklich? »Sie sind sehr, sehr leidenschaftlich. Im Stadion wird 90 Minuten durchgesungen«, erklärt Wimmer und sagt über den kleinen, aber feinen Unterschied im Vergleich zu manch anderen fußballbegeisterten Ländern: »Man unterstützt auch mehr das eigene Teams, anstatt den Gegner zu verhöhnen. Außerdem ist es zu 99 Prozent friedlich.« Der 44-Jährige hat zudem eine interessante Beobachtung gemacht, die mit Blick auf hitzige Derbys wie im Ruhrpott zwischen dem BVB und Schalke 04 unvorstellbar erscheint: Nach dem Stadtderby zwischen dem Dundee FC und Dundee United, deren Stadien exakt 52 (!) Meter auseinander liegen, hätten sich die rivalisierenden Fans in der Kneipe getroffen und zusammen Bier getrunken. Herrlich, oder nicht?
Und der Fußball? »Da lautet das Klischee oftmals: Langer Ball, zweiter Ball, Ball nur in der Luft und kein Fußball«, so Wimmer. »Das sehe ich aber überhaupt nicht.« In Schottland werde schon auch gepflegter Fußball gespielt. Es sei aber extrem physisch und gehe generell sehr schnell. »Die Fans wollen ganz klar die Aktionen in den Strafräumen sehen. Wenn du hier zwei, dreimal zurückspielst wird teilweise schon gebuht. Die Fans möchten einfach unterhalten werden mit Zweikämpfen, Geschwindigkeit und vielen Strafraumaktionen.«
Und im Falle vom Motherwell FC - 2022 in der 2. Qualifikationsrunde der Conference-League zuletzt in Europa vertreten - am Ende der Saison über den erneuten Ligaverbleib jubeln. 27 Jahre am Stück war das beim Traditionsclub, der seit 2016 im Mehrheitsbesitz der Fans liegt, zuletzt der Fall. Wimmer übernahm die Mannschaft Mitte Februar nach vier Niederlagen in Folge im freien Fall und baute die Klassenerhalt-Serie nun um eine weitere Saison aus. In der Abstiegsrunde (die Scottish Premiership wird nach der regulären Spielzeit zweigeteilt) liegt Motherwell vor dem vorletzten Spieltag am Mittwochabend gegen Kilmarnock auf dem sicheren zweiten Platz. Selbstverständlich ist das nicht, wenn man weiß, dass Wimmers Club zu den finanziell schwächsten Vereinen im schottischen Oberhaus zählt.
»Der Klassenerhalt wurde deshalb extrem gefeiert. Aber ich habe definitiv Ambitionen. Auf Dauer ist es nicht mein Anspruch, mich nur mit dem Ligaverbleib zufrieden zu geben. Denn man bringt auch viele Opfer. Ich habe jetzt zehn Wochen lang meine Familie nicht gesehen. Und ich bin ein sehr großer Familienmensch. Es gibt viele Dinge, die man verbessern muss«, betont der deutsche Trainer-Legionär und Familienvater, der sich zu Stuttgarter Zeiten auch wegen seiner emotionalen Art viele Freunde im Fanlager gemacht hatte.
Mit Car-Sharing zum Trainingsplatz
Da wären zum Beispiel die Trainingsmöglichkeiten, die auf den ersten Blick »mit vier super Plätzen richtig gut sind«, wie Wimmer berichtet. Es gibt in dieser Causa allerdings dieses eine großes Aber, das zu einer äußerst kuriosen und einer hierzulande undenkbaren Situation führt. »Wir müssen uns im Stadion umziehen, weil wir nur dort Umkleiden haben. Anschließend machen wir Car-Sharing oder jeder steigt in sein Auto und muss sieben Minuten durch die Stadt zum Trainingsplatz fahren«, berichtet der langjährige Stuttgarter Co-Trainer, der zu Beginn seiner Coaching-Karriere rund acht Jahre in der Jugendabteilung des 1. FC Nürnberg tätig war. Ach ja: Nach dem Training geht es übrigens natürlich wieder zurück ins Stadion in die Kabinen. »Und jeder weiß, dass es in Schottland auch mal regnet«, sagt Wimmer korrekterweise. »Aber dann steigst du halt nass und dreckig ins Auto und fährst wieder zurück«, ergänzt er. Kurzum: Sachen, die dringend verbessert werden müssen, um auch auf dem Transfermarkt und im Werben mit der Konkurrenz mithalten zu können.
Doch wie sind die Schotten eigentlich auf Wimmer gekommen? Schließlich ist der Deutsche erst der zweite Trainer (mit Harri Kampman trainierte 1998 mal ein nichtssagender Finne für zwölf Pflichtspiele den Club) in der Vereinsgeschichte des im Jahre 1886 gegründeten Motherwell FC ist, der nicht aus UK oder Irland stammt. Das sogenannte Daten-Scouting im modernen Fußball hat an dieser Stelle mal wieder zugeschlagen. Denn Wimmers Zahlen zu Zeiten bei der Wiener Austria haben international Eindruck hinterlassen. Oder wie es der 44-Jährige formuliert: »Bei der Austria habe ich eine Mannschaft übernommen, die eher einen passiven Fußball gespielt hat. Wir hatten zum Schluss dann aber den besten Gegenpressing-Wert in der österreichischen Bundesliga. Das ist auch das, was ich sehen möchte: Wenn’s scheppert. Das macht mir einfach Spaß. In Wien waren meine Ergebnisse eher 4:3 oder 4:4 als 1:0 oder 1:1. Das ist eher mein Fußball.«
Trainer und Sportdirektor in einer Person
Und genau deshalb hat für ihn die Karriere-Station Schottland, wo die Fans laut ihm dem Spektakel grundsätzlich zugewandt sind, Sinn gemacht. Auch wenn hier und da eine Überraschung lauert. Wimmer ist nicht nur Trainer, sondern auch Sportdirektor. Er füllt die Position des Teammanagers aus, was auf der Insel eher die Regel als Ausnahme ist, und gibt offen und ehrlich zu: »Das habe ich vielleicht ein wenig unterschätzt. Aktuell sind es eher 70 Prozent Sportdirektor und 30 Prozent Traineraufgaben. Aber im Grunde bin ich doch Fußballlehrer und nicht Sportdirektor. Andersrum hätte ich es lieber gehabt. Aber daran kann man als Person nur wachsen. Ich sitze jetzt zum ersten Mal da und habe bei Transfergesprächen oder Vertragsverhandlungen das letzte Wort. Und vor allem ist es ein doppelter Fulltime-Job.«
Um zu verstehen, wie abenteuerlich seine zweite Auslandsstation eigentlich ist und mit welch finanziell stumpfen Waffen er als Teammanager bei Motherwell kämpfen muss, reicht ein Blick auf folgende Aussage: »Wenn ein Club aus der englischen dritten Liga ernst macht, dann können wir nicht mithalten.« Und dennoch gelang dem 44-Jährigen Anfang März als Trainer des Underdog die Sensation, als er im legendären Ibrox-Stadium den schottischen Rekordmeister und Europa-League-Finalisten von 2022, die Glasgow Rangers, mit 2:1 bezwang. Und das in einem Stadion, in dem man es eher genießen sollte, wenn man dort spielen dürfe, wie Wimmer der Meinung ist. »Das war Weltklasse im Ibrox zu gewinnen«, sagt er und grinst.
Celtic und Rangers überstrahlen alles
Zur Erklärung: In Schottland sind die Rangers und Celtic Glasgow die alles überstrahlenden Teams der Liga. Seit 40 Jahren ist kein anderer Club Meister geworden. Das führt dazu, auch das ist in Deutschland nicht vorstellbar, dass die Live-Spiele fast ausschließlich mit Beteiligung der beiden Glasgow-Clubs gezeigt werden. Die Fernsehgelder sind grundsätzlich nicht hoch in Schottlands erster Liga und pro Spieltag können die Fans nur zwei Live-Partien im TV zu sehen.
Was aber sind seine Ziele mit dem Traditionsclub, der 1932 bislang zum einzigen Mal Meister wurde und sich in der Regel zwischen Platz sechs und neun einpendelt? »Ich möchte mit meiner Mannschaft einen proaktiven und intensiven Fußball spielen lassen. Es ist eine Arbeiterstadt hier und die Leute sollen sehen, dass hier Fußball gearbeitet wird und dass es ihnen es Spaß macht, uns zuzuschauen. Ich glaube immer, dass dies Art und Weise mit Erfolg verbunden ist. Erfolg ist aber eine Definitionssache. Ist es der Tabellenplatz? Oder junge Spieler zu entwickeln und zu verkaufen, was ich auch gerne mache? Ich will einfach Gas geben und ehrlich arbeiten. Und natürlich ist es ein Ziel, nächstes Jahr an die Top-Sechs anzudocken und hoffentlich auch den Sprung in die Meisterrunde zu schaffen«, betont Wimmer abschließend. Sein Schottland-Abenteuer hat erst begonnen. Diese wertvolle und hochspannende Erfahrung nimmt dem Ex-VfB-Coach niemand mehr. (GEA)