MAILAND. Es ist noch keine Ewigkeit her, da hat die Stadt Mailand die lilafarbene Metrolinie 5 um eine entscheidende Wegstrecke verlängert. Wo es früher nur bis zur Haltestelle Lotto ging und dann noch einen langen Fußweg brauchte, hält die fahrerlose Bahn inzwischen direkt an der Station an San Siro Stadio. Wer das erste Mal die vielen Treppen nach oben klettert, zückt zwangsläufig schnell sein Smartphone. Weil sich vor ihm ein Monument für die Ewigkeit erhebt. Vielleicht nirgendwo sonst in der Fußball-Welt verströmt in die Jahre gekommener Beton zu jeder Jahreszeit so viel Glanz. Die elf spiralförmigen Türme, die steilen Tribünen, die imposante Erscheinung – all das ist Kult. Und Kulturgut.
Kein Ort vereint so viel Magie und Mythos. Schauplatz besonderer Begegnungen. Wie kürzlich beim Klassiker zwischen Italien und Deutschland, als die DFB-Auswahl im Nations-League-Viertelfinale mit 2:1 reüssierte. Oder jetzt beim Champions-League-Viertelfinale zwischen Inter Mailand und Bayern München (Mittwoch 21 Uhr/Dazn), wenn die vor einem Monat beteiligten Leroy Sané, Leon Goretzka und Joshua Kimmich mit zwei Toren Differenz siegen müssen, um weiter vom »Finale dahoam« zu träumen. Sehr wahrscheinlich spielen sie das letzte Mal im Giuseppe-Meazza-Stadion, das im Volksmund nur San Siro heißt.
Ein Neubau ist geplant
Geplant ist ein Neubau für anderthalb Milliarden Euro gleich nebenan. Das Projekt erhitzt seit Jahren die Gemüter. Kann die Metropole einfach sein berühmtestes Wahrzeichen nach dem Dom opfern? Angeblich bleiben Inter Mailand und AC Mailand noch drei Monate, um das Gelände der Stadt abzukaufen und über US-amerikanische Investmentfonds ein San Siro 2.0 zu errichten. Noch in diesem Jahr könnte ansonsten der zweite Rang mit seinem 70-jährigen Bestehen als unantastbar gelten, wenn er sich nicht in Privatbesitz befindet. Der Vorplatz in dem gleichnamigen Stadtteil ist so riesig, dass fliegende Händler vor jeder Partie ulkig anmutende Fressmeilen aufbauen, bei der vor allem die Frauen an den Verkaufsständen italienische Klassiker trällern, um heiße Panini draußen an den Mann zu bringen. Nostalgiker werden wehmütig bei der Vorstellung, dass drinnen bald nicht mehr der Ball rollt. Als der FC Bayern vor zwei Jahrzehnten aus dem Olympiastadion auszog, da wusste jeder, dass eine Heimstätte mit so vielen nicht überdachten Plätzen und weitläufiger Tartanbahn nicht mehr zeitgemäß ist. Ebenso verhielt es sich mit dem Wembley-Stadion in London, wo am Ende nicht nur die Stützpfosten störten. Aber das Guiseppe-Meazza-Stadion ist doch eigentlich zeitlos?
Nicht mehr zeitgemäß
Der Namensgeber war immerhin Weltmeister von 1934 und 1938 und für beide Mailänder Klubs aktiv. Die Renommiervereine sind sich indes in ihrem Wunsch nach einem moderneren Zuhause einig. Gerade die Inneneinrichtung ist in die Jahre gekommen: angefangen bei den Büros, über die Kabinen, die Medienräume bis hin zu den Sanitäranlagen. Und weil aus Sicherheitsgründen sogar einige der oberen Tribünenbereiche gesperrt sind, geht es für die italienischen Topklubs natürlich auch um höhere Einnahmen und bessere Vermarktung, wovon auch Real Madrid mit dem modernisierten Bernabeu und der FC Barcelona bald im renovierten Camp Nou profitieren.

Läuft alles wie von den Eigentürmern erhofft, befindet sich die Spielstätte derzeit in ihrem letzten Akt. Erbaut 1926 gab es in der Folgezeit mehrere Erweiterungen, die wichtigste vor der WM 1990, als die dritte Tribünenebene, die Türme und das Dach entstanden – und auf einmal fast 86.000 Menschen in ein Stadion passten, das für die von Lothar Matthäus angeführte deutsche Nationalelf zum Wohnzimmer werden sollte. Fünf von sieben Partien spielten die Weltmeister in Mailand: Durch diese »magischen Nächste« ist dieser Ort für immer eng mit der deutschen Fußball-Geschichte verknüpft.
Aber auch der FC Bayern erinnert sich gerne. Vor allem ans Champions-League-Finale 2001, als Oliver Kahn und Stefan Effenberg ihr zwei Jahre zuvor in Barcelona erlittenes Trauma tilgte. Vier Jahre zuvor vereinnahmte der FC Schalke 04 den Uefa-Cup im Final-Rückspiel gegen Inter. Spiele bei den »Nerrazzurri« (»Schwarz-Blauen«) nahmen insbesondere für die Münchner immer einen guten Ausgang. Alle vier Europapokalduelle bei Inter haben die Bayern gewonnen, wobei das 3:1 im Uefa-Cup 1988 am ehesten als Blaupause für die Gegenwart taugt, weil damals im K.o.-Modus das Hinspiel sogar mit 0:2 verloren worden war.
Letztes CL-Finale 2016
Gegen Lokalrivale Milan lief es nicht immer so glatt. Unvergessen, wie im Frühjahr 2006 an zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Bundesligisten Werder und Bayern im Viertelfinale gegen italienische Klubs ausschieden. Erst legte Bremens Torwart Tim Wiese im pinkfarbenen Pulli eine überflüssige Rolle hin, die Juventus Turin zum Sieg verhalf, dann ließen sich die Münchner vom AC-Starensemble mit Filippo Inzaghi, Andrej Schewtschenko und Kaka am Nasenring durch die Manege ziehen. Aus dieser Zeit stammt das Zitat des Inter-Stürmers Hernan Crespo: »San Siro ist ein Stadion, das dir Emotionen gibt. Abends ist es solch ein Spektakel, dass man als Spieler eigentlich einen Smoking anziehen müsste.«
Das letzte Champions-League-Endspiel erlebte »la Scala del calcio« (das Opernhaus des Fußballs) im Mai 2016, als das Madrider Stadtduell zwischen Real und Atletico ins Elfmeterschießen ging. Es dürfte das letzte Europokalfinale der Geschichte gewesen sein.
Eröffnungsfeier bei Olympia 2026
Eigentlich wollte die Uefa noch das das Finale der Königsklasse 2027 nach Mailand vergeben, aber dringend nötige Reparaturarbeiten konnten die Behörden nicht garantieren. Die Vereinsoberen von Inter und Milan stritten jahrelang mit den Stadtvätern, die eigentlich auf eine Modernisierung drängten. Zwischenzeitlich drohten die Klubs sogar mit einem Wegzug aus dem Stadtteil, was Bürgermeister Giuseppe Sala auf die Palme brachte. Immerhin soll San Siro jetzt noch die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele 2026 erleben, dann aber könnten die Tage gezählt sein – und dieses Kultstadion ab 2031 vorwiegend als Amphitheater dienen. (GEA)