REUTLINGEN. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der am Freitag (29. Dezember) seinen 70. Geburtstag feiert, hat sich wie immer über alle Bedenken hinweggesetzt. Trotz des russischen Überfalls auf die Ukraine sollen russische und belarussische Athletinnen und Athleten am Pariser Olympia teilnehmen. Wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Was für die Gegner von Thomas Bach ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ein Geburtstag im Krisenstatus?
Bach hat keine Zweifel, dass Russland neutrale Athletinnen und Athleten in Paris nicht zu Propagandazwecken nutzt. Ein neutraler Athlet stehe »gerade nicht für ein Land, und das wird eben dadurch deutlich, dass er sich mit nichts identifizieren darf, was auf sein Land hinweisen könnte«. Das IOC hatte Russen und Belarussen für die Spiele in Paris (26. Juli bis 11. August 2024) zugelassen, fast 23 Monate nach Kriegsausbruch und trotz anhaltenden Blutvergießens in der Ukraine. Athletinnen und Athleten, die dem Militär angehören und den Krieg aktiv unterstützen, sollen ausgeschlossen bleiben - wie Mannschaften aus beiden Nationen.
Das Vorgehen des olympischen Zirkels hatte nicht nur in der Ukraine für scharfe Kritik gesorgt. »Ich sehe nicht, wie es den Kriegsverlauf zugunsten Moskaus beeinflussen sollte, wenn individuelle neutrale Athleten mit russischem Pass ohne Flagge, ohne nationale Identifikation, ohne Hymne und nicht dem Militär oder den Sicherheitsbehörden angehörig an den Olympischen Spielen teilnehmen«, argumentiert der Präsident, Fecht-Olympiasieger von 1976 in Montreal, im Interview mit der »Welt«. Zweifel bestehen aber nicht nur im Überprüfungsprozess der zugesicherten Neutralität der Athletinnen und Athleten. Auch die Wirksamkeit des Dopingkontrollsystems für russische Athletinnen und Athleten wird in Zweifel gezogen.
Zeichen gegen Russland setzen
Die Konsequenz daraus kann nur sein, sagt Viola von Cramon-Taubadel, seit 2019 für die Grünen im Europaparlament, Russland und Belarussland von den Spielen in Paris auszuschließen: »Ich akzeptiere die Teilnahme Russlands ausdrücklich nicht.« Das ist auch die Position von Säbelfechterin Lea Krüger. »Russland hat den Sport bewusst instrumentalisiert, Russland hat den olympischen Frieden mehrfach gebrochen, Athleten Deutschland sind gegen die Teilnahme russischer und belarussischer Athleten in Paris«, sagte Krüger zuletzt bei einer Veranstaltung im Deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln. Viola von Cramon in Köln: »Das IOC muss ein Zeichen gegen Russland setzen.« Wenn nicht, rechtfertige das einen Boykott der Spiele.
Bach selbst hatte den politischen Boykott der Spiele 1980 in Moskau immer für falsch gehalten (»Das darf nie wieder passieren«) und diesen Boykott, der nachher auch von der deutschen Politik für falsch erachtet wurde, stets als grundlegendes Motiv seines olympischen Engagements bezeichnet. Sven Güldenpfennig, Sportwissenschaftler und olympischer Experte, stützt die Thesen von Bach: »Ausschluss und Boykott sind der falsche Weg. Die olympische Charta muss die Richtschnur des olympischen Handelns bleiben. Wenn man mit einem Boykott das olympische Regelwerk verlässt, wird es keinen olympischen Sport weltweit mehr geben, das IOC muss unter allen Umständen die Spaltung des Weltsports verhindern.« Friedhelm Julius Beucher (SPD), ehemaliger Vorsitzender des Sportausschusses des Deutschen Bundestages und langjähriger Präsident des Deutschen Behinderten-Sportverbandes (DBS), nennt die aktuelle Situation vor Paris »schwer erträglich«: »Aber wenn man russische Athleten in Paris nicht will, muss man die Charta ändern. Ich halte das für notwendig und machbar.«
Bis 2025 ist Thomas Bach zum Präsidenten gewählt, doch ob er die Schlüssel zum Olympic House am Ufer des Genfersees nach zwölf Amtsjahren übergeben wird, ist offen. Bei der Session des IOC in Mumbai wurde Bach zuletzt aufgefordert, weiter im Amt zu bleiben. Man könne die Charta ändern, die momentan für den Präsidenten das Limit bei zwölf Amtsjahren setzt. Per Zweidrittelmehrheit könnte die IOC-Vollversammlung 2024 in Paris ihre selbst gegebene Verfassung ändern. Voraussetzung wäre ein entsprechender Antrag, der Formsache sein dürfte. 76 der 107 Mitglieder des IOC, etwa 71 Prozent, wurden unter Bach ins IOC gewählt.
Bachs Standing im IOC ist gewaltig, und das hat nichts mit seinem runden Geburtstag zu tun. Nicht selten wird der promovierte Wirtschaftsjurist aus Tauberbischofsheim bei Sessionen mit Huldigungen und Liebesbekundungen bedacht. Doch bleibt er? Er mache sich seine Gedanken, sagt Bach vor der Vollendung seines siebten Lebensjahrzehnts. »Nach meinem Verständnis von Führung ist es nicht angemessen, Vorschläge von IOC-Mitgliedern einfach wegzuwischen«, sagte er zuletzt richtungsweisend in Stuttgart.
Bach lebt mit der Kritik
Bach hat ein Vermächtnis geschaffen. In Paris werden erstmals gleichviele Frauen und Männer antreten, mit den Agenden 2020 und 2020+5 bremste das IOC den Gigantismus ein, nie waren Spiele nachhaltiger als die von Paris. Andererseits: Intransparenz bei der Vergabe von Spielen, auffällige Nähe zu Despoten und nicht zuletzt sein allzu nachsichtiger Umgang mit Russland brachten Bach immer wieder laute Kritik ein. Vor allem in Deutschland. Die Agenda 2020, aufgestellt zu seiner Wahl in Buenos Aires im September 2013, ist unstrittig sein Verdienst. Und trotzdem gehen den Kritikern die Reformen im olympischen Zirkel noch längst nicht weit genug. Bach hat mit den Kritikern, vor allem in seinem Heimatland, zu leben gelernt. »Wenn ich mich tagtäglich mit meinen Kritikern auseinandersetzen würde, käme ich zu nichts anderem mehr.« Bach ist jedenfalls vom Erfolg der Olympischen Spiele in Paris überzeugt. Ob ihn das zu einer weiteren Kandidatur motiviert, wird selbst in seinem engsten Führungskreis in Lausanne kontrovers diskutiert. Entscheiden kann das der Präsident letztendlich nur selbst.
Wahrscheinlicher ist jedenfalls, dass die Olympische Charta in Paris eher zu Gunsten von Bach geändert wird als zu Ungunsten der russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten. (GEA)