MÜNCHEN. Manchmal sind es die Rand-Aspekte, die viel über eine Mannschaft sagen. Als die deutsche Nationalelf beim Stand von 4:0 den einzigen Gegentreffer kassierte, passte das den Nationalspielern gar nicht. Das Zu-Null wollten sie nicht aus der Hand geben. Dabei war der schottische Ehrentreffer angesichts der haushohen Überlegenheit der Gastgeber nur ein Schönheitsfehler, der nicht weiter ins Gewicht fiel. Doch das Team von Julian Nagelsmann ging nicht einfach zur Tagesordnung über. »Es ist ein gutes Zeichen, dass wir uns als Mannschaft über das Gegentor ärgern«, sagte Torjäger Niclas Füllkrug.
Maximalen Erfolg - nichts weniger wollte die Elf gegen Schottland. Und schaffte das auch mit einer 5:1-Gala. Der Bundestrainer hatte zur Pause, als das Team bereits eine beruhigende 3:0-Führung in der Tasche hatte, nach Füllkrugs Aussage weiter »die Gier« angesprochen. Seine Mannen nahmen ihn beim Wort, ließen keinen Deut nach und bauten das Ergebnis noch aus. Nach den zuletzt sehr mühsamen Testspielen präsentierten sich Füllkrug & Co. von ihrer Schokoladenseite. »Wir müssen es genießen. Man merkt die Freude im Land. Alle fiebern mit«, beschrieb Kai Havertz eine Stimmung, die auch für Nationalspieler, die schon alle erdenklichen Emotionen erlebt haben, nicht alltäglich ist.
Leistungsexplosion nach zähen Testspielen
Thomas Müller fand mal wieder eine spezielle Formulierung, die nur dem 34-Jährigen vor versammelter Medienschar einzufallen scheint. »Die Fans haben sich so eine Explosion gewünscht«, sagte der Wortführer und meinte damit nicht die Pyrotechnik bei der offiziellen Eröffnung am Spielfeldrand. Die Gastgeber hatten vielmehr eine Leistungsexplosion auf den Rasen gezaubert, deren Timing zum EM-Auftakt nicht besser hätte sein können. Jetzt noch in Stuttgart am Mittwoch (18 Uhr) ein weiterer Erfolg gegen Ungarn, das nach der 1:3-Niederlage gegen die Schweiz schon mit dem Rücken zur Wand steht, und der Vorstoß ins Achtelfinale wäre bereits frühzeitig eindrucksvoll besiegelt.
Die erste Hürde ist genommen. Was aber noch wichtiger ist: Man hat sich freigespielt vom Druck, der vor der ersten EM-Partie auf der Mannschaft lastete. »Wir machen unser Ding - und bleiben trotzdem auf dem Boden«, sagte Müller. Auch Füllkrug ist sich sicher: »Da wird keiner abheben.« Alle sind weit davon entfernt, nun von Wolke sieben gar nicht mehr herunterzukommen. Obwohl auch Nagelsmann diesmal nicht auf die Euphorie-Bremse treten wollte: »Am Ende bin ich weit davon weg, ein Mahner zu sein.« Es gab ja auch bis auf den unnötigen, aber auch unglücklichen Gegentreffer nichts zu kritisieren.
Wunderknaben trumpfen auf
Die Fans euphorisch, die Mannschaft abgeklärt - oder soll man realistisch sagen? Ein Turnier ist lang. Sieben Spiele werden es für die Nationalspieler im Optimalfall sein, gerade mal eins haben sie hinter sich gebracht. »Die Widerstände kommen«, sagte Müller. Alle wissen, dass es in der Gruppen-Phase gegen Ungarn und die Schweiz deutlich schwieriger werden dürfte. Aber man hat ja die zwei Wunderknaben, die mächtig Eigenwerbung betrieben. Florian Wirtz und Jamal Musiala begeisterten mit ihrem Auftritt und den Toren. In der Bundesliga oder der Champions League zu treffen, ist das Eine. Zum Saison-Höhepunkt vor den Augen der internationalen Fußball-Welt aufzutrumpfen, das Andere. Müller wies darauf hin, dass die beiden Youngster nicht nur Potenzial hätten, sondern am Freitag »gezeigt haben, dass sie auch Macher sind«.
Dass die beiden 21-Jährigen so furios in die EM starteten, lag auch an Ilkay Gündogan, der endlich einmal im Nationalteam derart seine Qualitäten ausspielte, wie man das vom Kapitän im Club-Dress schon seit Jahren kennt. Der 33-Jährige setzte die beiden mehrfach sehr gut in Szene und war als Vorbereiter an zwei der fünf deutschen Treffer beteiligt. Gündogan fand selbst die passende Beschreibung: Er habe der »Bessermacher« für seine Mitspieler sein dürfen, lautete seine Einschätzung. (GEA)