LONDON. Der Herbst des Jahres 2000 war keine gute Zeit für den deutschen Fußball. Die Nationalmannschaft war wenige Monate zuvor bei der Europameisterschaft in der Vorrunde ausgeschieden. Und das völlig zurecht. In dem Turnier hatte das von Erich Ribbeck trainierte Team Gruseliges geboten. Ribbecks Zeit war abgelaufen, für ihn sollte mittelfristig Christoph Daum übernehmen, sein Platzhalter hieß Rudi Völler. Es kam bekanntlich anders. Wenige Tage vor dem Spiel in der WM-Qualifikation gegen England am 7. Oktober 2000 machten erste Gerüchte die Runde, Uli Hoeneß sprach vom »verschnupften Daum«.
Alles in allem keine guten Vorzeichen für Interimscoach Völler vor dem Auftritt in London. Den Engländern sollte das nur Recht sein: Das Spiel gegen die Deutschen war die letzte Partie im alten Wembley-Stadion vor dessen Abriss und Neubau. Dort, wo die Three Lions 1966 den bislang einzigen WM-Sieg feierten, sollte es gegen die Deutschen wieder einen Sieg geben. Auch das kam anders: Das einzige Tor des Tages erzielte Dietmar Hamann – ein Treffer, der beinahe dafür gesorgt hätte, dass eine Brücke nach ihm benannt worden wäre. Aber der Reihe nach.
Hamann hatte in dieser Zeit keinen guten Stand in der deutschen Öffentlichkeit und war als einer der (vielen) Schuldigen für die Blamage bei der EM ausgemacht worden. In dem Turnier hatte England das erste Mal seit 1966 wieder ein Spiel gegen den Erzrivalen Deutschland gewonnen. In seinem Alltag erreichte Hamann die Kritik aus der Heimat wenig, ein Jahr zuvor war er von Newcastle zum FC Liverpool gewechselt.
»Lass mal gut sein, der ist zu weit für dich«
Seine Mitspieler an diesem Tag im deutschen Mittelfeld hießen Michael Ballack, Mehmet Scholl, Sebastian Deisler. Die 10 trug jedoch Hamann. 14 Minuten waren gespielt, als Schiedsrichter Stefano Braschi 32 Meter vor dem englischen Tor auf Freistoß entschied. Scholl wollte auch, aber Hamann schickte ihn weg, wie er Jahre später der Zeit verriet: "Als Scholli sich den Ball nehmen wollte, sagte ich zu ihm: "Lass mal gut sein, der ist zu weit für dich. Ich mach den direkt."
Hamann nutzte eine Regel aus, die kurz zuvor in Kraft getreten war. Danach musste der Schütze in dieser Situation nicht mehr auf den Pfiff des Schiedsrichters warten, sondern konnte einfach schießen. Das hatte sich offenbar nicht bis zu allen englischen Spielern herumgesprochen. Deren Mauer war gerade dabei, sich zu postieren. Auch Torwart David Seaman war noch nicht ganz bei der Sache. Weil es seit eineinhalb Tagen geregnet hatte, war der Rasen klitschnass. Hamann nutzte das aus, schoss den Ball flach und scharf aufs Tor – und traf. Haltbar sei der Schuss durchaus gewesen, erinnerte er sich: »Natürlich habe ich das Seaman bei unseren Begegnungen in den Jahren danach auch wissen lassen. Er hat es sportlich aufgenommen.«
Etwas weniger entspannt nahmen es an diesem Tag die englischen Fans hin, dass der Treffer der letzte sein sollte, der im alten Wembley fiel. Völlers Mannschaft brachte das 1:0 über die Zeit – und Kevin Keegan, der Trainer der Gastgeber, bekam den Zorn seiner Landsleute zu spüren. Das erfuhr Hamann erst Jahre später: »Auf dem Weg in die Katakomben sei er von den Fans so übel beschimpft worden, dass er sich anschließend auf dem Klo einsperrte und dort die Entscheidung traf, das Amt niederzulegen.« Keegan, der als Spieler beim Hamburger SV die Bundesrepublik begeistert hatte, trat noch am selben Tag zurück.
Aber auch für Hamann selbst sollte der Treffer ungeahnte Spätfolgen haben. Denn als das neue Wembley-Stadion nach Jahren des Neubaus vor der Eröffnung stand, sollte dieses neue Internet auch irgendwie eingebunden werden, um die Fans mitzunehmen. In einer Online-Abstimmung sollte ermittelt werden, welchen Namen der Fußgängerübergang erhält, der das englische Nationalstadion mit dem Ortszentrum von Wembley verbindet. Knapp 700.000 Mails gingen ein – und der Vorschlag mit den meisten Stimmen lautete: »Dietmar Hamann Bridge«. Offizielle Begründung: Der letzte Torschütze des alten Stadions solle doch bitteschön gewürdigt werden. Hamann erinnerte sich: »Irgendein Fan in Deutschland hatte offenbar von der Abstimmung Wind bekommen und die Sache viral gemacht, selbst aus Schottland und Südafrika stimmten die Leute für meinen Namen.«
»Gegen ein Pferd zu verlieren, war mir neu«
Letztlich kam es nicht dazu: Weil die zuständige Kommission sich darüber mokierte, dass die Abstimmung »aus Deutschland beeinflusst« worden sei, bekam ein anderer Name den Zuschlag. Wer heute über die Brücke ins Stadion läuft, geht auf der »White Horse Bridge« entlang. Namensgeber ist das Polizeipferd Billy, das beim ersten FA-Cup-Finale im Wembley 1923 für Ordnung gesorgt hatte. Jahre später schrieb Hamann selbst: »Auf Pferde zu setzen und zu verlieren, damit kannte ich mich aus. Aber gegen ein Pferd zu verlieren, war mir neu.« (GEA)

